Theologischer Preis der Salzburger Hochschulwochen
für S.E. Walter Kardinal Kasper

Laudatio: Prof. em. Dr. theol. Eberhard Jüngel, Tübingen

Ein Lebenswerk soll mit dem heuer zum ersten Mal zu vergebenden Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen gewürdigt werden: das Lebenswerk des Kurienkardinals und – nicht zu vergessen! – Tübinger Honorarprofessors Walter Kasper.

Ein Lebenswerk? Welch seltsam Wort! „Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?“

Ein Lebenswerk – ist es die Summe aller Werke, der opera und opuscula, die ein Mensch im Laufe seines Lebens hervorgebracht hat und für die ihm, wenn sie gelungen sind, zumindest im Salzburger Milieu Applaus, und wenn sie hervorragend gelungen sind, lang anhaltender Applaus gebührt?

Doch applaudieren Sie lieber nicht, meine Damen und Herren, oder jedenfalls nicht zu laut – bin ich versucht, zu sagen. Denn der Mann, dessen Lebenswerk hier jetzt geehrt werden soll, ist zwar auch ein Tübinger Honorarprofessor – und das ist etwas, ist beinahe das, worüber hinaus in der akademischen Welt Größeres nicht gedacht werden kann, also id quo coram mundo academico maius cogitari nequit. Aber Walter Kasper war schon immer und ist als römischer Kurienkardinal erst recht ein Mann der Kirche, mithin ein Theologe, der diesen Namen verdient. Die Kirche aber ist – in neutestamentlicher Terminologie ausgedrückt – ein Bau, und zwar ein recht alter, ein nunmehr fast 2000 Jahre alter Bau. Und da ist man versucht, den Slogan zu wiederholen, mit dem man in England auf die überragende Qualität der Aufführungen aufmerksam zu machen pflegt, die im Londoner Konzerthaus Covent Garden ins Werk gesetzt werden. Der Slogan lautet: „Klatschen Sie nicht zu laut! Es ist ein sehr altes Gebäude …“ Die una sancta catholica et apostolica ecclesia ist zwar ein geistlicher Bau, aber doch noch erheblich älter als Covent Garden. Also klatschen Sie nicht zu laut …

Man kann seine Freude, Genugtuung und Dankbarkeit für ein gelungenes Werk ja auch ganz anders zum Ausdruck bringen. Giuseppe Verdi – um für einen Augenblick noch einmal im Salzburger Paradigma zu verharren – Giuseppe Verdi pflegte im Garten seines Sommersitzes Sant’ Agata nach jeder neuen von ihm komponierten Oper – auch ein opus! – einen Baum zu pflanzen: eine Plantane für Rigoletto, eine Eiche für den Troubadour und eine Trauerweide für La Traviata. Wenn der heute zu Würdigende es Verdi gleichgetan hätte, würden wir jetzt einen kleinen Mischwald zu bestaunen haben – wobei wir uns freilich nicht den Kopf darüber zerbrechen wollen, für welches seiner Werke der zu Ehrende wohl eine Trauerweide zu pflanzen sich veranlaßt gewußt hätte.

Doch was der Kardinal, der auch in der römischen Kurie nicht aufgehört hat, ein genuin Tübinger Theologe zu sein und sich als solcher bemerkbar und gegebenenfalls auch streitbar bemerkbar zu machen, ja der sogar bereit war, gegenüber den damaligen Säulen des Vatikans theologische Streitlust zu signalisieren – doch was Walter Kardinal Kasper im Laufe seines bisherigen Lebens an kleinen, größeren und großen Werken geschaffen hat, das bedarf dessen nicht, daß man – sei es durch an sie erinnernde Bäume, sei es durch anderen Lorbeer – eigens auf sie aufmerksam machen müßte. Sie sprechen in ihrem unprätentiösen, grundsoliden, unaufgeregten, aber zielstrebigen, belehrenden aber nicht schulmeisternden modus loquendi für sich.

Und sie sprechen gerade dadurch für sich, daß sie für einen Anderen sprechen. Sie wollen jedenfalls nicht so ins Licht gerückt werden, daß sie das, wovon sie handeln, in den Schatten stellen. Das haben echte theologische Werke wohl mit wahren Kunstwerken gemeinsam, daß sie die Wahrheit zum Leuchten bringen wollen und nur, insoweit sie die Wahrheit zum Leuchten bringen, auch selber leuchten. Was hingegen sich selber zur Erscheinung bringen will, „was nur scheinen will, leuchtet nicht“ - habe ich bei Martin Heidegger1 gelesen.

Es gibt zwar auch unter uns Theologen nicht wenige, die es darauf anlegen, coram mundo exzessiv zu scheinen und deshalb auch so oft wie möglich vor allen möglichen Foren (am liebsten in Talkshows) erscheinen: „Figaro hier, Figaro dort, Figaro, Figaro, Figaro …“ Nein, die Theologen, die es darauf abgesehen haben, nur zu scheinen – sie und ihre Gedanken leuchten nicht.

Walter Kasper gehört nicht zu ihnen. Und eben deshalb weist all das, was man seine Werke, seine opera, nennen könnte, von sich weg und so auch von ihm weg. Von sich weg weisend sind sie wegweisend. Eine Laudatio dessen, der heute mit dem Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwoche ausgezeichnet werden soll, kann sich deshalb nicht als Würdigung der einzelnen opera und opuscula des zu Ehrenden vollziehen. Ein aus der Summe seiner Werke bestehendes „Lebenswerk“ vermag ich jedenfalls nicht zu würdigen. Ich vermag es schon deshalb nicht, weil ich einfach nicht weiß, was das ist: ein Lebenswerk.

Und so muß ich denn zum zweiten Mal den zweifelnden Faust bemühen: Ein Lebenswerk? Welch seltsam Wort! „Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?“

Auch evangelische Theologen schlagen, wenn sie dergleichen Hilfe benötigen, nach. Nein, nicht bei Shakespeare! Und auch nicht – wie es eine die reformatorische Devise sola scriptura grotesk mißverstehende Polemik unterstellt – immer gleich und immer nur in der Heiligen Schrift. Auch evangelische Theologen schlagen, wenn es um das Verständnis der Welt und der sie begreifenden Begriffe geht, bei den Weltweisen nach. Sie schlagen sogar – wer es fassen kann, der fasse es! – bei Aristoteles nach.

Und was lesen wir da? Wir lesen in der aristotelischen Metaphysik2, daß zwar das Ziel des praktischen Wissens das Werk, das e;rgon, sei. Denn der (vernünftig) Handelnde, der Praktiker, will etwas ins Werk setzen. Das Ziel des Denkenden, des Erkennenden, den Aristoteles gern einen Theoretiker nennt, ist jedoch gerade nicht das Werk, sondern die Wahrheit.

Und eben der Wahrheit weiß sich der Theologe Walter Kasper in seiner theologischen Arbeit, ja auch in seiner Praxis als Pfarrer, als Bischof und als Kardinal verpflichtet. Er will die Wahrheit, genauerhin die Wahrheit des Evangeliums zum Leuchten bringen. Nein, nicht zum Leuchten bringen. Er will vielmehr die von selbst leuchtende Wahrheit des Evangeliums, er will den splendor veritatis evangelii reflektieren. Und wenn sich in seiner theologischen Arbeit dieser splendor veritatis reflektiert, dann ist diese Arbeit recht getan. Und dann ist seine theologische Denkarbeit mehr als ein Werk. Dann hat die theologische Arbeit Walter Kaspers den Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen wahrhaftig verdient.

Gewiß, seine Werke sind, sein Oeuvre ist unübersehbar. Wer sich darein vertieft, lernt einen überaus fleißigen Gelehrten kennen, der der Zunft und nicht nur ihr etwas zu sagen hat und etwas zu denken gibt: angefangen mit der 1962 publizierten Dissertation, die auf 447 Seiten „Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule“ zur Darstellung bringt! Auf diesen Anfang folgten weit über 600 weitere Publikationen, darunter Monographien mit einer beachtlichen Wirkungsgeschichte. Schon die nur drei Jahre später im Druck vorliegende zweite großangelegte Untersuchung, die unter dem Titel „Das Absolute in der Geschichte“ Licht in eines der komplexesten, tiefsinnigsten, aber auch dunkelsten Kapitel der neueren Philosophie, nämlich in die Spätphilosophie des aus dem Tübinger Stift hervorgegangenen Schelling gebracht hat, ist ein Werk, das bis zum heutigen Tag das Problembewußtsein der Schelling-Interpretation nachhaltig bestimmt. Dieselbe nachhaltige Wirkung ist auch anderen Werken Kaspers zu attestieren, von denen jetzt nur eigens genannt werden sollen: die 1972 erschienene und in neun Sprachen übersetzte „Einführung in den Glauben“; die 1972 erschienene und dann in vielen Auflagen nachgedruckte Christologie „Jesus der Christus“; und die darauf aufbauende trinitarisch pointierte Gotteslehre, die 1982 unter dem Titel „Der Gott Jesu Christi“ veröffentlicht wurde und den Glauben an den dreieinigen Gott – in großer Nähe zur Auffassung Karl Barths – als „konkreten Monotheismus“ zu begreifen fordert.

Doch nicht nur diese zumeist recht umfangreichen Bücher wären zu würdigen, sondern auch die zahlreichen kleineren Arbeiten, in denen sich Walter Kasper als Meister der literarischen Kurzform erweist. Kurzum: Der Laudator hätte eine zwar nicht unendliche, aber doch nicht enden wollende Geschichte zu erzählen, wenn er das Lebenswerk des zu Ehrenden durch die Vorstellung seiner Werke zur Geltung bringen wollte. Zudem ist noch nicht aller Tage Abend, so daß mit weiteren Werken des noch immer rüstigen Autors zu rechnen ist. Ein „Lebenswerk“ aber ist ein vollbrachtes Werk, das zwar fortwirken kann und soll, das aber eine Fortsetzung durch weitere Werke nicht gut verträgt. Doch was wäre das für eine Laudatio, die dem zu Lobenden zu verstehen gibt, daß er fortan des Verfassens von bemerkenswerten Texten sich zu enthalten habe?

Gewiß, das Auditorium würde, wenn man die größeren und kleineren Werke aus der Feder des gelehrten Mannes hier Revue passieren ließe, viel Wissenswertes erfahren. Indessen, „Vielwisserei lehrt nicht Verstand haben“, bemerkte schon Heraklit. Und ich wiederhole es gern: polumaqi,h no,on e;cein ouv dida,skei/: Vielwisserei lehrt wirklich nicht Verstand haben.

In den literarischen Arbeiten eines Denkers spricht sich denn auch nicht so sehr dessen Wissen als vielmehr seine akademische Existenz aus. In den Arbeiten eines theologischen Denkers spricht sich folglich dessen theologische Existenz aus. Die literarischen Arbeiten eines Theologen sind Sprache gewordene Existenz, so daß von dieser dasselbe gilt, was Wilhelm von Humboldt3 von der menschlichen Sprache generell behauptet hatte, nämlich: „Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia) …“

Achten wir also auf die in den literarischen Arbeiten des gelehrten Kurienkardinals und – nicht zu vergessen!–Tübinger Honorarprofessors zum Ausdruck kommende theologische Energie! Wem gilt sie? Achten wir auf seine vielfältig wirksam gewordene theologische Existenz! Wovon wird sie bewegt? Und was will sie bewegen?

Das erste und gewiß auch das Grundlegende, was dem Laudator an der theologischen Existenz Walter Kaspers eindrücklich geworden ist, ist ein aller Tätigkeit und allem Wirken vorausliegendes oder vielmehr vorausgehendes Verhalten: ein Akt, in dem sich dem Theologen die Quelle aller theologischen Energie erschließt. Ich rede vom Hören.

Es ist gewiß nicht zufällig, daß sehr bald auf die erste große wissenschaftliche Publikation Walter Kaspers die Veröffentlichung von „Adventspredigten“ (1963) folgte. Zu predigen vermag aber nur, wer zuvor gehört hat. Insofern ist die Predigt, ist der Verkündigungsdienst die Grundschule aller rechten Theologie. Walter Kasper weiß, daß die ecclesia audiens die Bedingung der Möglichkeit der ecclesia docens ist. Aus dem Hören auf Gottes Wort entspringt seine theologische Energie. Das Hören auf Gottes Wort gibt seiner theologischen Existenz ihr Gepräge. In seiner theologischen Existenz verifiziert sich Martin Luthers Behauptung, ein Mensch werde dadurch zum Christenmenschen, daß er hört4. Ja, hörend konstituiert sich auch die theologische Existenz, hörend entsteht die redende Kirche.

Durch das Hören auf Gottes Wort ist auch das wissenschaftliche Wahrnehmungsvermögen Walter Kaspers geschult worden, hat es jene Offenheit erworben, die ihn auch im Verkehr mit anderen Quellen, Instanzen und Institutionen zunächst einmal zu einem Hörenden, zum homo audiens werden ließ.

Das zeigt sich in seiner Offenheit auch für die kirchliche Überlieferung, die er wach und gründlich, aber keineswegs unkritisch zu rezipieren verlangt. Sich zwischen der Skylla eines respektlosen Kritizismus und der Charybdis eines kritiklosen Respektes zielsicher hindurch bewegend entspricht er der apostolischen Empfehlung, alles zu prüfen, das Gute aber zu behalten. Und das Gute, das er bei seinem Hören auf die Kirchenväter und auf die großen Lehrer der Kirche gefunden und sich zueigen gemacht hat, ist – mit seinen eigenen Worten formuliert – „kein geistloser Traditionalismus, sondern ein uns heute kaum mehr vorstellbarer Mut zum eigenen Denken“5. Das eigene Denken des Theologen aber ist allemal ein nachdenkendes Denken, das zuvor vernommen, das zuvor gehört hat, was es zu bedenken gilt.

Daß theologisches Denken seinem Wesen gemäß nachdenkendes Denken, ein den Wegen Gottes nachdenkendes Denken ist, schließt für Walter Kasper also keineswegs jenes sapere aude aus, das nach Kant die Ermutigung ist, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und also auch da, wo es sich fremden Gedanken zu öffnen gilt, allemal selber zu denken. Und so ist denn in dieser Laudatio auch dies am theologischen Denken Walter Kaspers zu würdigen, daß es sich zum Weiterdenken verpflichtet weiß. Der Titel eines 1998 – in einer evangelischen wissenschaftlichen Zeitschrift – publizierten Textes trägt den programmatischen Titel: „Das Zweite Vatikanum weiterdenken“.6 Wenn “Gott im Kommen” ist und die Theologie dem kommenden Gott nachzudenken hat, dann kann das Denken nicht beim Gedachten verweilen, dann muß es weiterdenken.

Von da aus erklärt sich auch Kaspers Insistieren auf den Dialog mit der Philosophie, die in ihrem Zentrum für ihn die „nach dem Sein als solchem“ fragende Metaphysik ist. Kasper wehrt sich gegen die modische Metaphysik-Verachtung und könnte wohl mit Hegel spotten: Metaphysik – „Sauve qui peut! Rette sich, wer kann! So höre ich schon einen vom Feinde erkauften Verräther ausrufen … Denn Metaphysik ist das Wort …, vor dem jeder, mehr oder minder, wie vor einem mit der Pest Behafteten davonläuft“7. Nein, der Theologe Kasper läuft vor dem Wort Metaphysik nicht wie vor einem mit der Pest Behafteten davon, der katholische, der Tradition natürlicher Theologie verpflichtete Dogmatiker schon gar nicht. In unserer durchweg antimetaphysisch orientierten Situation ermuntert er die Theologie – und darin trifft er sich mit seinem evangelischen Kollegen –, zur „Hüterin und Verteidigerin der Philosophie als Frage nach dem Sein als solchem“ zu werden.8 Dabei reden weder der evangelische noch der katholische Dogmatiker einer Mixophilosophicotheologia das Wort, sondern plädieren gerade auch im philosophischen Diskurs für eine „theologische Theologie“9

Aber auch in der Philosophie heißt Denken: weiter denken. Daß die die Frage nach dem Sein offen haltende Philosophie nicht mehr die lange und allzulange das abendländische Denken dominierende Substanzmetaphysik sein kann, diese Überzeugung verbindet Kaspers durch und durch katholische Theologie wiederum mit einer so durch und durch evangelischen Theologie wie der des Laudators. Daß „nicht die Substanz, sondern die Relation … das Letzte und Höchste“ ist10, was die Philosophie zu denken gibt, das hatte die Theologie spätestens dann begriffen, als sie das Sein Gottes als trinitarisches und eben deshalb als beziehungsreiches Sein zu denken genötigt war.11

Die trinitarische Fassung des monotheistischen Gottesgedankens, die das Denken Kaspers seit seiner heute als Klassiker geltenden Schelling-Interpretation herausgefordert hat, wird von ihm bei aller Gedankenstrenge freilich immer als Ausdruck des Glaubens und eben deshalb als Mysterium bedacht, das nicht in einer den Glauben überbietenden Gnosis aufgelöst werden darf. Es gehört zum Eindrücklichsten in dem zu würdigenden theologischen Oeuvre, wie dessen Autor am mysterium trinitatis deutlich zu machen versteht, daß die Kraft des Denkens das Geheimnis nicht etwa zersetzt, sondern dem Geheimnis zugute kommt: je gründlicher das Geheimnis bedacht wird, desto geheimnisvoller wird es. Auch in dieser Hinsicht berühren sich die Arbeit des Theologen und das des Künstlers. Ist doch das Kunstwerk wie die große Künstlerin Natur - mit Goethe gesprochen - ein “heilig öffentlich Geheimnis”, das es zu “ergreifen” gilt und das doch um so geheimnisvoller wird, je besser es begriffen wird. Um wieviel mehr trifft dies für das mysterium trinitatis zu. Je tiefer wir erfassen, daß das Leben des dreieinigen Gottes die uns an diesem Leben Anteil gebende Liebe ist, desto geheimnisvoller wird uns diese Liebe und desto geheimnisvoller werden wir als dermaßen Geliebte sogar uns selbst.

Von dieser Einsicht aus kann Kasper dann sogar das Bekenntnis zum dreieinigen Gott als „die christliche Antwort auf den modernen Atheismus“12 geltend machen, eine Antwort, die allerdings stets neu zur Sprache gebracht zu werden verlangt. In der Theologie, das lehrt uns die theologische Arbeit Walter Kaspers, hat man den Anfang nie hinter sich. In der Theologie gilt es, immer wieder aufs neue mit dem Anfang anzufangen.

Dabei weiß sich die strenge Gedankenarbeit der Theologie rückgebunden an die Kirche, die Kasper als Ort und als Sakrament des Geistes begreift. Geist aber besagt nach seinen eigenen Worten so viel wie „außer Fassung geraten, außer sich sein“ und ist in dieser seiner Ek-zentrik „der Inbegriff humaner Würde und Freiheit“.13 Frei ist nur, wer aus sich herauszugehen, wer sich selber zu verlassen vermag. Solche aus der Fassung bringende Freiheit kann den Menschen allerdings auch vor den Abgrund seiner eigenen Möglichkeiten bringen. Sie hat, wenn sie sich zur Absolutheit steigert, mit Hegel zu reden, den Schrecken zur Seite14. Gebannt kann dieser der absoluten Freiheit parallel gehende Schrecken, für den die Diktaturen des letzten Jahrhunderts auch dann, wenn sie nur erbärmliche Karikaturen angemaßter absoluter Freiheit zu sein vermochten, als grauenhafte Beispiele stehen – gebannt werden kann dieser Schrecken nach Kasper nur, wenn der Begriff der absoluten Freiheit ein Rechtstitel Gottes bleibt und wenn diese Freiheit sich als die „Freiheit seiner Liebe“ erweist, „die darin sie selbst ist, daß sie sich weggibt“15. Sich weggebend erreicht sie sogar den Gottlosen, um dessen Gottlosigkeit von innen heraus zu verwinden.

Wenn sich aber dem Glaubenden das Leben des dreieinigen Gottes als Liebe erschließt und mitteilt, dann muß auch das davon redende Zeugnis sich liebevoll mitteilen. Von daher wird einsichtig, daß der zum Rottenburger Bischof avancierte Tübinger Theologe sich für sein bischöfliches Wappen die im Epheserbrief ausgegebene Parole zueigen machte, nämlich „die Wahrheit in Liebe zu sagen: avlhqeu,ein evn avga,ph, veritas in caritate“ (Eph 4,15).

Auch als Sekretär und dann als Präsident des päpstlichen Rates für die Einheit der Christen hat sich Walter Kasper vorgenommen, die Wahrheit des Evangeliums, diese aber in Liebe zur Geltung zu bringen – wobei die Liebe keineswegs die erfrischende Einsicht ausschließt, die Theodor Storm so formuliert hat: „Doch zu Zeiten | sind erfrischend wie Gewitter |goldne Rücksichtslosigkeiten“. Ich werde die Fernsehsendung nicht vergessen, in der der Bischof Walter Kasper dem Guru Eugen Drewermann – den damals wohl mehr als 90 % aller Zuschauer privilegierten – in der Weise eines erfrischenden Gewitters mit dem katholischen Verständnis der Wahrheit des Evangeliums konfrontierte. Es war spät Abends. Ich habe danach, obwohl durch und durch evangelisch, ungewöhnlich gut geschlafen.

Doch auch der theologischen Auseinandersetzung mit seinen kardinalen Kollegen geht Walter Kasper, wenn er eine solche Auseinandersetzung um der Wahrheit willen für geboten hält, nicht aus dem Wege. Unvergessen bleibt, wie er mitten in Rom für - sagen wir einmal: die Balance zwischen Universalkirche und Partialkirchen, für Universalkirche und Ortskirche kämpfte. Vivant sequentes!

Manchmal streiten auch wir. Aber das nur dann, wenn es sein muß. Und das muß dann eben tapfer ertragen werden. Und tapfer ertragen wird es allemal dann, wenn wir uns unser unterschiedliches Verständnis der Wahrheit des Evangeliums in Liebe kundtun. Tapfer ertragen wir den für notwendig erachteten Streit, wenn wir miteinander in der Gewißheit streiten, daß es inmitten noch so großer Unterschiedenheit zwischen den christlichen Kirchen ein im Wort Gottes selbst uns offeriertes immer noch größeres Einverständnis gibt, das zu entdecken unsere Chance und unsere Pflicht ist. Es wartet darauf, entdeckt und zur Geltung gebracht zu werden. Jetzt erst recht. Jetzt, da - wie man im vorletzten Heft der Herder Korrespondenz lesen konnte - die “weltweiten ökumenischen Aktivitäten der katholischen Kirche unter der Federführung des Einheitsrates mehr denn je einer Baustelle” gleichen, auf der der Präsident des Einheitsrates oft genug selber Hand anlegen und doch zugleich - mit Hugo von Hofmansthal zu reden - “die Aufsicht über das Ganze behalten” muß, - jetzt erst recht. Es ist an der Zeit, die Gewißheit zu intensivieren, daß vom Worte Gottes her jene Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins möglich ist und wirklich werden soll, die mit Fug und Recht die una sancta catholica et apostolica ecclesia genannt zu werden verdient.

Diese Gewißheit gibt dem Weiterdenkenden jene mit einer Prise Humor gewürzte Gelassenheit, die geduldig macht und uns über uns selbst zu lachen erlaubt. Und Sua Eminenza kann lachen wie nur wenige Eminenzen, und das durchaus auch über sich selbst. Denn zu seiner theologischen Arbeit gehört jene um den Humor Gottes wissende Geduld, die Walter Kasper gerne im Anschluß Charles Peguy „die kleine Schwester der Hoffnung“ nennt. Man könnte sie auch den langen Atem der Leidenschaft nennen.

Die christliche Hoffnung weiß (ich sage es mit einigen Zeilen des Barockdichters Christian Günther): “Endlich bleibt nicht ewig aus.../Endlich nimmt der Lebenslauf/Unsers Elends auch ein Ende./Endlich steht der Heiland auf,/Der das Joch der Knechtschaft wende.../Endlich blüht die Aloe./Endlich trägt der Palmbaum Früchte./Endlich schwindet Leid und Weh./Endlich wird der Schmerz zunichte./ Endlich sieht man Freudental:/Endlich, endlich kommt einmal.” Denn Gott ist im Kommen. Wer in dieser Hoffnungs-Gewißheit lebt und wer in dieser Gewißheit theologisch arbeitet, dessen Leidenschaft bekommt einen langen Atem. Walter Kasper hat ihn.

Summa: Wenn Theologie, wie Walter Kaspers theologische Existenz es uns bezeugt, beides ist: nämlich (1.) ein den biblischen Texten nachdenkendes Denken und (2.) ein energisches Weiterdenken, dann beginnt in der Theologie etwas zu leuchten. Und dann hat der Heilige Geist, wenn ich so sagen darf, freie Bahn, um seine uralte Kirche von Tag zu Tag zu erneuern. Und dann muß man übrigens auch keine Angst haben, daß der Bau, der die Kirche nach neutestamentlicher Einsicht ist, zu alt wäre, um den Beifall zu ertragen, der diesem Mann der Kirche gebührt und ihm denn auch zuteil werden soll, wenn ihm nun der Theologische Preis der Salzburger Hochschulwochen verliehen wird. Ich jedenfalls sage von Herzen gratulor und - klatsche dazu.