Die christlichen Wuzeln Europas

Kardinal Walter Kasper

Wer gegenwärtig von Europa spricht, liegt nicht unbedingt im Trend. Diese Unzeitgemäßheit hat Ministerpräsident Erwin Teufel nie gehindert, sich leidenschaftlich für das Groß-Projekt Europa einzusetzen. In seiner jüngst erschienen politischen Biographie „Gewissen für das Ganze“ (Freiburg i. Br. 2009) begründet er sein Engagement unter anderem mit persönlichen Erfahrungen während und nach dem Zusammenbruch von 1945. Ich könnte aus meiner Kindheit und Jugend ähnliches erzählen.

Für unsere Generation war die Europaidee der Europäer der ersten Stunde, Adenauer, Schuman, De Gasperi und anderer, fast wie eine Erlösung; nach der Schmach des dritten Reiches wurde Deutschland wieder als volles Glied in die europäische Völkergemeinschaft aufgenommen; nach den Verwüstungen des Krieges konnte in Europa eine Zone Friedens entstehen, aufgebaut auf der Respektierung der allgemein gültigen Menschenrechte und auf einer neuen Besinnung auf die humanistischen und christlichen Wurzeln Europas.

Europa ist zu einer Erfolgsgeschichte geworden. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Dinge sich auch zum Besseren wenden können, wenn nur der Wille und – ich füge hinzu – die Vernunft zu Umkehr und Versöhnung da ist. „Der Untergang des Abendlands“ (Wien-München 1918.1922), von dem Oswald Spengler nach dem ersten Weltkrieg schrieb, muss nicht das letzte Wort sein. Doch was ist das, Europa? Welches ist die europäische Idee oder – meinetwegen – die europäische Vision?

Die Antwort fällt nicht leicht. Europa lässt sich ja nicht einfach geographisch bestimmen; geographisch gesehen ist Europa eine Halbinsel oder ein Anhängsel an die Landmassen Asiens. Wo fängt es an und wo hört es auf? Europa lässt sich schon gar nicht ethnisch bestimmen. Es besteht aus Vielzahl von Völkerschaften, die unterschiedliche Sprachen sprechen, die eine unterschiedliche Geschichte haben, unterschiedliche Kulturen ausgeprägt haben und Jahrhunderte lang blutige Kriege miteinander geführt haben.

Die Einheit Europas kann darum nur eine Einheit in großer Vielfalt sein, eine Vielfalt, welche nicht Schwäche, die vielmehr der Reichtum und die Stärke Europas ist. Das wichtigste Bauprinzip Europas ist, was die christliche Soziallehre das Subsidiaritätsprinzip nennt, für das sich Erwin Teufel als Mitglied des Rates der Regionen Europas und des Europäischen Konvents mit Recht eingesetzt hat, was ihm in Straßburg und Brüssel den Titel Mister subsidiarity eingebracht hat. Hätte man dieses Prinzip in den letzten Jahrzehnten mehr beachtet, hätte man sich manchen Europaverdruss sparen können.

Was aber ist bei dieser Vielfalt die gemeinsame Idee Europas? Ich weiß keine bessere Antwort als die: Europa ist eine geschichtlich gewordene Schicksalsgemeinschaft. Bei aller Vielfalt gibt es eine Einheit, die mit den Namen Jerusalem, Athen, Rom bezeichnet werden kann. Alle drei: der antike hellenistisch-römische Humanismus, die jüdisch-christliche Tradition und die neuzeitliche Aufklärung mit den allgemeinen Menschenrechten sind das gemeinsame Erbe aller Europäer. Alle drei Elemente sind in ihrer wechselseitigen Verschränkung für die europäische Identität wichtig.

Die christliche Tradition nimmt dabei gewissermaßen eine vermittelnde Stellung ein. Denn das antike Erbe wurde durch die Mönche, in unserer Region durch die Mönche rund um den Bodensee, weitertradiert; die moderne Aufklärung, sosehr sie sich gegen das damalige kirchlich etablierte Christentums wandte, ist ohne die christliche Vorgeschichte nicht zu verstehen. Menschenrechtliche Ideen finden sich bereits in der Barockscholastik, die ihrerseits auf das in der Bibel grundgelegte christliche Menschenbild zurückgriff. Umgekehrt hatte die neuzeitliche Aufklärung Rückwirkungen auf die moderne Gestalt des Christentums und mit dazu beigetragen, dass die Ideen der Toleranz und der Religionsfreiheit heute in allen großen Kirchen selbstverständlich geworden sind. Kein Vernünftiger will dahinter zurück.

Die Synthese aus jüdischer, griechischer, römischer, aber auch germanischer und slawischer Kultur mit dem Geist des Christentums und den Idealen der neuzeitlichen Aufklärung ist in einem komplizierten Prozess zu einem komplexen, dynamisch sich entwickelnden Gebilde geworden, das wir die europäische Kultur nennen; sie hat sich immer wieder neu als offen und integrationsfähig erwiesen für neue geschichtliche Situationen und Herausforderungen.

Auf dieser Grundlage ist Europa und seine Kultur groß geworden. Doch neben der Größe Europas gibt es auch das Elend und die Schuldgeschichte Europas. Europa hat seine hehren Ideale oft verraten: in den Kreuzzügen, in den Konfessionskriegen, bei der Geschichte der Kolonisation anderer Völker, in zwei von Europa ausgehenden Weltkriegen und nicht zuletzt in der Schoah, der staatlich geplanten und ins Werk gesetzten Ausrottung des europäischen Judentums mitten in Europa.

Diese dunklen Seiten europäischer Geschichte haben mit dazu beigetragen, dass Europa seiner Identität unsicher geworden ist. Die humanistischen Fächer werden sträflich vernachlässigt, das jüdische Erbe kann nach der Schoah bei uns erst langsam wieder aufleben, das Christentum scheint in Westeuropa vielen am Verdunsten und damit eine mehr und mehr zu vernachlässigende Größe zu sein, und schließlich ist die Postmoderne daran, sich auch von den großen Ideen der Aufklärung sang- und klanglos zu verabschieden. Die europäische Krise ist die Krise einer Amnesie, einer Geschichtsvergessenheit, die meint, die Kultur von morgen ohne Verwurzelung im gestern aufbauen zu können und die damit auf den Flugsand der rasch wechselnden Moden baut.

Die Frage nach den christlichen Grundlagen Europas stellt sich seit dem Fall der Berliner Mauer vor genau 20 Jahren eher noch dringender. Seither steht die Integration von West- und Osteuropa an. Sie ist eine einmalige Chance. Doch als ich vor 10 Jahren den Auftrag erhielt, mich u.a. um den Dialog mit den Ostkirchen und d.h. mit Osteuropa zu kümmern, ist mir aufgegangen, wie selbst der Geschichtsunterricht, der uns im Gymnasium zuteil wurde, durch die Mauer und den eisernen Vorhangs bestimmt war und wie sehr das Bild des karolingischen westlichen Europa, das wir oft das Abendland nennen, erweiterungsbedürftig ist. Es gibt, wenn ich so sagen darf, auch ein Morgenland Europa, das von Byzanz geprägt ist, in dem das römische Reich fast 1000 Jahre länger als im Westen überlebte, und das die Kultur sowohl Griechenlands wie des Balkans und Russlands bestimmt.

Wer darum meint, die Integration von Ost- und Westeuropa nur mit wirtschaftlichen Parametern leisten zu können und die osteuropäischen, hauptsächlich orthodoxen Kirchen außer acht lassen zu können, die bis heute Träger dieser Kultur sind, der wird mit seiner Integrationspolitik mit Sicherheit scheitern.

Kurzum: Wer die christlichen Wurzeln leugnet, den muss man zu einer Reise einladen von Gibraltar nach Estland oder von Rom nach Konstantinopel, Kiew und Moskau. Er wird rasch festzustellen, was die unterschiedlichen Völkerschaften Europas zusammenhält. Überall wird er dem Kreuz als Einheit stiftendem Symbol begegnen; im Zentrum der alten Städte wird er Kathedralen finden, die Zeugen einer großen Kultur und übrigens auch heute keineswegs nur Museen sind. Die christlichen Wurzeln der europäischen Kultur zu ist nur kontrafaktisch möglich und widerspricht jeder historischen Evidenz.

Das sagen bedeutet in keiner Weise, die Uhren zurückzustellen und einen Kurs der Restauration einzuschlagen. Man kann auch in der Geschichte nie rückwärts sondern immer nur vorwärts gehen. Die religiös-kulturelle Situation in Europa hat sich seit den Anfängen der europäischen Integrationsbewegung in vieler Hinsicht grundlegend gewandelt. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur einen Faktor, der mir zu den ernstesten „Zeichen der Zeit“ zu gehören scheint: die Migrationsbewegung, die rund um den Globus mehr als 195 Millionen Menschen betrifft. Von ihr wird sich Europa nicht abschotten können, einerseits wegen der negativen wirtschaftlichen und auch klimatischen Entwicklung in der so genannten dritten Welt und andererseits wegen der negativen demographischen Entwicklung bei uns. Schon jetzt ist Europa in irreversibler Weise kulturell wie religiös pluralistisch geworden. Die Frage, was Europa zusammenhält, stellt sich damit neu.

Wenn es stimmt, was Arnold Toynbee sagt, dass sich nämlich die Geschichte nach dem Gesetz von challenge and response verläuft, dann wird die Zukunft Europas entscheidend davon abhängen, wie wir mit diesem Phänomen umgehen. Natürlich ist Xenophobie sowohl aus christlicher wie aus humanistischer Sicht keine Antwort, aber die Naivität von Multikulti ist es ebenso wenig. Jedwede menschliche Gemeinschaft kann, besonders in Krisensituationen, ohne ein geistiges Band nicht überleben. Wer die schon immer pluralistischen Vereinigten Staaten auch nur ein wenig kennen gelernt hat, weiß, dass es dort ein solches in Form einer civil religion und eines – zumindest für uns Deutsche – sehr patriotischen American dream gibt. Beides lässt sich so nicht auf die europäische Situation übertragen. Was dann?

Einen Hinweis auf eine mögliche Antwort hat Jürgen Habermas nach dem 11. September 2001versucht. Er stellt ein Erschöpfen der utopischen Potentiale fest. In den Katastrophen des vergangenen 20. Jahrhunderts sind sowohl die marxistische Utopie wie der westliche Traum vom Fortschritt untergegangen. Woher also beziehen wir die moralische und emotionale Schubkraft, die wir brauchen, um mit den immensen Herausforderungen, die vor uns stehen, fertig zu werden? Jürgen Habermas ist der Überzeugung, dass es angesichts dieser Herausforderungen unvernünftig wäre, auf das Potential und die Motivationskraft der Religion, konkret: die jüdisch-christliche Überlieferung und deren vernünftige Auslegung aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen.

Selbstverständlich kann man mit religiösen Surrogaten eines vagen religiösen Gefühls und einer Flucht in einen esoterischen und synkretistischen Spiritualismus, wie er gegenwärtig oft en vogue ist, den harten Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht gerecht werden. Es bedarf eines rational durchleuchteten Glaubens. Ich denke an den kritischen wie konstruktiven Dialog mit der modernen pluralistischen, weithin säkularisierten Kultur und mit den modernen Wissenschaften, - den Beitrag zu einer gerechten und solidarischen globalen Weltordnung angesichts des Auseinanderdriftens von wenigen Reichen und vielen Armen, - die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Islam, die heute wie sie schon mehrfach in der Geschichte schicksalhaft für Europas zu sein scheint.

Dabei ist für mich das Problem nicht so sehr der Islam; das Problem sind wir Europäer. Europa muss aufwachsen, Europa muss wieder zu sich selbst, zu seiner Geschichte und seiner Kultur stehen, es muss seine geistlichen und moralischen Kräfte regenerieren. Dann kann es selbstbewusst in einen respektvollen und friedlichen Wettstreit mit dem Islam eintreten.

Was also sind diese Wurzeln, auf die es sich zu besinnen gilt? Ich beschränke mich auf nur drei Gesichtspunkte: Zu aller erst die Menschenwürde als Würde jedes einzelnen Menschen verbunden mit der Idee Solidarität aller Menschen. Beides ist im jüdisch-christlichen Monotheismus begründet. Entsprechend hat die Spannung zwischen Personalität und Solidarität die europäischen Rechtsordnungen und die europäischen Sozialsysteme geprägt. Das unterscheidet Old Europe von der neuen Welt. Der neoliberale Kapitalismus kann darum nicht die europäische Option sein.

Als zweites nenne ich die Bedeutung der Familie als Grundzelle der Gesellschaft. Natürlich weiß ich, dass sich Familienstrukturen in mancher Hinsicht verändern können. Aber es ist meine Erfahrung, als 1945 buchstäblich alles zusammengebrochen ist – es gab keine Kommune, keinen Staat, keine Versicherung, es gab nichts mehr – die Familienbande haben gehalten und man konnte sich an ihnen halten.

Schließlich die Ehrfurcht vor Gott; sie ist der Anfang der Weisheit (Ps 111,10; Sir 1,14; Spr 1,7). Schon Hegel hatte erkannt, dass der europäischen Kultur alles Kolossale, das menschliche Maß Sprengende fremd ist. Die Ehrfurcht vor Gott begründet auch die Ehrfurcht vor dem Menschen, die solidarische Zuwendung zu notleidenden Menschen wie die Ehrfurcht vor der Schöpfung. Sie gehören zum Kostbarsten europäischer Tradition. Demut als geschöpfliche Würde vor Gott schließt mit der Hybris, dem Hochmut auch den Kleinmut aus; sie schenkt Großmut, den Mut zu den bleibend gültigen großen Dingen. Dass man die religiöse Krise Europas in anderen Teilen der Welt mit Sorge betrachtet, kann man u.a. bei Philip Jenkins (God’s Continent. Christianity, Islam and Europe’s Religious Crisis, 2007) nachlesen.

Ich gebe Jeremy Rifkin recht: Der europäische Traum (The European Dream, 2004) hat, wenn Europa die Kraft besitzt, sich auf seine Wurzeln zu besinnen, alles andere als ausgedient, er kann auch in Zukunft seinen Beitrag leisten für eine gerechte, friedvolle und menschlich lebenswerte Welt. Er kann Träger einer Hoffnung sein, ohne welche kein einzelner Mensch, kein Staat, auch Europa und die Menschheitsfamilie nicht menschenwürdig überleben können. Aber Europa muss Europa sein wollen; nur dann wird es auch in Zukunft seine Sendung für eine menschliche Welt haben.

Erwin Teufel hat dies im Titel einer seiner Veröffentlichungen sehr einfach ausgedrückt. Es geht um „Maß und Mitte“ (Lahr/Schwarzwald 2006). Er hat diesem Buch ein Wort von Karl Popper vorangestellt, mit dem ich schließen möchte: „Unsere Probleme sind kompliziert. Aber die Grundeinsichten sind alle sehr einfach. Daran kann man sich halten“.