Maria – Patronin Europas

Wallfahrtspredigt von Walter Kardinal Kasper in Kevelaer am 13. September 2009


Ich möchte diese Wallfahrtspredigt mit einer persönlichen Erinnerung beginnen. Es war während den schweren des zweiten Weltkriegs. Obwohl ich damals ein Bub von nur 10, 11, 12 Jahren war, habe ich noch sehr genaue Erinnerungen an diese Zeit. Der Krieg war im Grunde verloren, aber es stand uns das Schlimmste noch bevor. Die meisten deutschen Städte waren noch einigermaßen heil, die großen Flächenbombardements standen noch bevor und noch war der Krieg nicht bis auf deutschen Boden vorgedrungen.. Aber man konnte einigermaßen vorhersehen, was kommen würde. Der Bischof unserer Diözese, der heutigen Diözese Rottenburg-Stuttgart, Joannes Baptist Sproll, war von den Nazis aus der Diözese vertrieben worden. In der Verbannung beschloss er, die Diözese der Gottesmutter Maria zu weihen. Die Weihe wurde am Rosenkranzfest 1943 vollzogen.

Das Weihgebet unserer Diözese, verfasst von einem persönlichen Freund Romano Guardini, gehört bis heute zum Gebetsschatz unserer Diözese. Es ruft Maria an als Beschützerin der Kirche auf der Pilgerfahrt durch die Jahrhunderte, und sagt dann: „Zu dir nehmen wir unsere Zuflucht in dieser Stunde der Finsternis.“ Natürlich kann man unsere Situation nicht mit der damaligen vergleichen. Wir leben – Gott sei Dank – nicht unter einem totalitären, menschenverachtenden und brutal Menschen mordenden Regime, und wir leben – nochmals Gott sei Dank – nicht im Krieg sondern seit mehr als einem halben Jahrhundert im Frieden. Wir haben allen Grund dankbar zu sein.

Trotzdem wir spüren eine Krise, nicht nur bei uns in Deutschland sondern in ganz Europa und in unserer westlichen Welt. Dabei denke ich nicht in erster Linie an die Finanz- und Wirtschaftskrise, so schlimm sie für viele Menschen ist, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat tiefere Wurzeln in einer Krise der Werte und der Religion. Manche sprechen von einer Gotteskrise. Und es sind nicht wenige Christen, die sich Sorgen machen um die Zukunft unseres Landes und unseres Kontinents. Wenn ich in andere Kontinente kommen, schütteln viele nachdenkliche Menschen den Kopf über uns ins Europa und fragen sich, ob das gut gehen kann, eine Kultur ohne Gott.

So scheint mir die Lesung aus dem letzten Buch der Bibel, der Geheimen Offenbarung des Johannes, die wir gehört haben, heute von neuer hoher Aktualität zu sein. Denn der Seher von Patmos schrieb dieses Buch angesichts einer damals noch jungen und zahlenmäßig noch kleinen Kirche, die einer großen Bedrängnis entgegensah. Er schreibt: „Da erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonn bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt.“

Wir alle kennen dieses Bild von unzähligen Darstellungen. Es hat die große Künstler immer wieder zu großartigen künstlerischen Gestaltungen angezogen und angespornt. Die Frau ist in diesem Bild die Repräsentantin des Gottesvolkes, sie ist unser aller Repräsentantin und sie ist in besonderen die Repräsentantin Europas. Denn die zwölf Sterne auf ihrem Haupt begegnen uns wieder als Symbol auf der Europafahne, die ja mit zwölf Sternen geschmückt ist. Der Frau gegenüber steht der Drache, groß und feuerrot. Er fegt mit seinem Schwanz ein Drittel der Sterne hinweg und wirft sie auf die Erde herab. Wir sollen nicht mehr nach den Sternen, nicht mehr nach oben und zum Himmel hinauf schauen; nein, unser Blick soll nach unten und auf die Erde gerichtet sein. Ist nicht genau das, was in Europa gegenwärtig passiert?!

Da ist auf der einen Seite die Frau, Maria. Sie repräsentiert das Volk Gottes. Sie repräsentiert uns alle. Sie zeigt uns das Ziel unseres Lebens und den Weg nach oben, der dorthin führt. Sie hat, als ihr der Engel erschien und ihr ihre Berufung zur Mutter Gottes verkündete, nicht nach unten geschaut. Gewiss, sie hat gefragt: Wie soll das geschehen. Aber dann hat sie gesagt: Ecce, ancilla Domini. Fiat, ja es soll geschehen, wie Gott es beschlossen hat. So ist sie, wie es das letzte Konzil sagte, das Urbild jedes Christen und das Urbild der Kirche. Sie ist Urbild und Leitbild des neuen, des erlösten und zur himmlischen Herrlichkeit berufenen Menschen. In ihr und ihrer Berufung dürfen wir uns alle wieder erkennen. Damit ist Maria nicht nur Urbild der Frauen; Maria ist auch Vorbild für Männer. Sie repräsentiert uns alle, denn sie repräsentiert den neuen Menschen so wie Gott ihn gewollt und wozu Gott ihn berufen hat.

Unsere Vorfahren haben das klar erkannt. Sie haben Maria zur Patronin Europas erkoren. Denn was ist Europa? Europa ist keine geographische und keine politische Größe. Europa ist eine geschichtlich gewordene geistige und kulturelle Größe. Europa ist durch den Geist des Christentums geformt. Der eine christliche Glaube hat die sehr unterschiedlichen Stämme und Völkerschaften Europas geeint und seine Kultur groß gemacht.

Als Zeichen dafür finden sich überall in Europa, wohin wir auch kommen, nicht nur Bilder und Figuren der Gottesmutter und ihr geweihte Kirchen, es finden sich über unseren ganzen Kontinent zerstreut auch unzählige marianische Wallfahrtsorte. In unserer Gegend sind es viele kleine Wallfahrtsorte, sonst gibt es viele große und weltberühmte: Lourdes, Fatima, Tschenstochau, Altötting und nicht zuletzt Kevelaer.
Europa hat Maria lieb gewonnen. In allen europäischen Sprachen nennt man sie mit zärtlichen Worten: Unsere liebe Frau, Madonna, Notre Dame, Our Lady. Wirklich, Maria ist unsere liebe Frau Europas, sie ist our Lady of Europe, Notre Dame de l’Europe.

Doch – wir sagten es schon – dieses Europa steckt heute in einer tiefen Krise. Wieder ist als ob der große feuerrote Drache, von dem die Lesung spricht, da ist um all die Sterne hinwegzufegen, die Marias Haupt schmücken; es ist ob der Drache sie auch heute auf die Erde herabfegt. Dieser Drache ist der Inbegriff der Eitelkeit, des Aufgeblasenen und des Hochmütigen. Er will nichts über sich anerkennen. So haben wir Menschen uns heute selbst zu Göttern gemacht. Wir wollen selber bestimmen, was gut und böse ist.

Die Folge ist uns seit der Geschichte auf den ersten Seiten der Bibel bekannt. Die Folge ist die Vertreibung aus dem Paradies. Wir sehen nun keine Sterne mehr, wir sind auf die Erde fixiert und sehen nur noch die Pützen am Boden Es ist als ob der Himmel verhangen und verschlossen wäre, als ob uns kein Licht der Hoffnung mehr voranleuchte.

So haben wir allen Grund uns neu zu besinnen auf die, welche die Patronin Europas ist. Wir müssen Maria neu zu unserer Patronin erwählen. Wir müssen wieder auf die Sterne sehen, die sie schmücken. Denn wir brauchen wieder Leitbilder, an denen wir uns orientieren können, zu denen wir aufschauen können und die uns am Ende nicht enttäuschen. Maria ist ein solches Leitbild. Sie müssen wir wieder in unser Herz schließen um Europa seine Seele zurückzugeben. Sie kann uns wieder den Himmel offen halten. Sie ist ja nach dem Kirchenlied die Sonnenumglänzte und Sternenbekränzte. Von ihr müssen wir Europäer wieder das Magnifikat lernen. Europa muss wieder das Europa des Magnifikat werden.

Europa muss mit Maria sagen: „Hoch preiset den Herrn meine Seele und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.“ Damit ist eine Spur gelegt und eine Richtung angegeben, die weiterhilft. Denn Europa kann nur Zukunft haben, wenn es wieder Gott als Herrn anerkenn, Gott als Herrn nicht nur mit dem Mund als Bekenntnis, das man am Sonntag, wenn man das Credo spricht, so heruntersagt, vielmehr Gott als Herrn des Lebens, unseres Lebens. Gott, von dem wir alles haben, was wir haben und was wir sind, Gott, aus dem und in dem wir leben und sind, Gott, an dem und an dessen Ordnung und Gebot wir uns orientieren.

Gott, der nicht eine Last ist, die man gerne abschüttelt, sondern Gott ist das höchste Gut, dessen man sich freut, dem man wie Maria dankt und den man preist, weil er alles so gut gemacht und es so gut mit uns Menschen meint. Auch mit seinen Geboten meint er es gut. Sie sollen uns das Leben ja nicht vermiesen, sie wollen uns nichts vorenthalten sondern sollen Wegweiser und Leuchte sein auf dem Weg unseres Lebens. Sie wollen helfen, dass wir unser Leben nicht verplempern und verlieren, dass es vielmehr voll gelingt und glückt und dass es zu seinem einzig sinnvollen Ziel, der Verklärung von Leib und Seele führt, eine Verklärung, in die Maria uns vorausgegangen ist.
Maria ist die Frau, die auf Gott hört und die ganz aus ihm und auf ihn hin lebt. Sie antwortet dem Engel: „Ich bin die Magd des Herrn.“ Sie ist deshalb groß, weil sie sich vor Gott klein macht. Sie will nicht selbst sein wie Gott. Sie lässt Gott wirklich Gott sein. Er ist für sie kein Tyrann, vor dem man Angst haben muss. Nein, sie darf vom Engel hören: „Du hast Gnade gefunden bei Gott.“ So beten wir ja auch: „Gegrüsset seist du Maria, voll der Gnade.“ Gott hat sie vom ersten Augenblick an mit Gnaden gleichsam überschüttet.

Diese ihre Begnadung war einmalig. Trotzdem sagt die Hl. Schrift von uns allen: dass Gott uns alle mit allem Segn des Himmels gesegnet hat. Gott ist uns allen wohlgesinnt; er will unser bestes und er schenkt uns sein Bestes. Er lässt uns in der Gnade teilhaben an seinem Leben. Maria sagt und hilft uns, über all den äußeren Reichtümern und Gütern den wahren Reichtum des inneren Lebens und der Seele, die Reichtümer des Herzens, die Reichtümer des geistlichen Lebens und des Lebens aus und in der Gnade nicht zu vergessen.

Mit alle dem ist Maria Patronin Europas. Das Menschsein, das sie verkörpert hat unsere europäische Geschichte geprägt und hat sie groß gemacht. Jahrhunderte lang hat man aufgeschaut zu ihr, unserer lieben Frau, Jahrhunderte lang hat man sich an ihr orientiert und sie verehrt. Sie war der Stern im Lebensmeere, der den Menschen vorangeleuchtet und ihnen den rechten Weg gewiesen hat, den Weg in dieser Welt und den Weg von dieser Welt zu unserem endgültigen Ziel im himmlischen Reich. Lassen wir uns nicht vom feuerroten Drachen die Sterne wegfegen, die wir brauchen um Orientierung in der Nacht des Lebens zu haben. Die Sterne auf der Europaflagge müssen wieder die Sterne werden, die ihr Haupt schmücken.

Lassen Sie uns darum schließen mit dem Weihegebet aus dem schweren Kriegsjahr 1943. Wir können es auch heute beten: „Mutter unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus, Mutter aller Erlösten,... Beschützerin der Kirche auf ihrer Pilgerfahrt durch die Jahr-hunderte, ...Hoffnung derer, die keinen Ausweg wissen und schuldbeladen sind. Zu dir nehmen wir unsere Zuflucht in dieser Stunde der Finsternis und erwählen dich heute und für immer zu unserer Fürsprecherin bei Jesus, deinem Sohne... Gib nicht zu, dass Christi Licht in den Getauften Finsternis werde und wir am Ende dastehen wie Bäume, die keine Frucht getragen.“ Und fügen wir hinzu: Führe uns alle, führe unser Volk und führe Europa zu der Herrlichkeit für Leib und Seele, die dir geschenkt wurde. Amen.