Vaticanum II – Intention, Rezeption, Zukunft

Kardinal Walter Kasper, Rom

I. Eine Kirche und Welt im Übergang

Das Zweite Vatikanische Konzil, das vor 50 Jahren zu Ende ging, ist für mich und meine Generation mit der Erinnerung an eine heute kaum mehr vermittelbare Aufbruchsstimmung verbunden. Sie hat unser ganzes Leben und unser theologisches Schaffen grundlegend geprägt. Sie ist der jüngeren Generation heute kaum mehr verständlich zu machen. Denn alle, die heute unter 60 oder 65 Jahre alt sind, haben das Konzil nicht mehr bewusst erlebt, es gehört für sie einer anderen Welt und einer anderen Epoche an, die nie die ihre war und die heute nicht mehr die unsere ist. (1)

Zwei Ereignisse machen die Veränderung schlagartig klar. In den ersten Wochen des Konzils im Oktober 1962 stand die Welt in der Kubakrise am Abgrund eines atomaren Krieges, dessen Schrecken gar nicht auszudenken gewesen wären. Zwei Machtblöcke mit gegensätzlichen ideologischen Systemen, dem der demokratischen Freiheit des Westens und dem des totalitären sowjetischen Kommunismus, standen sich hochgerüstet gegenüber. Der Eiserne Vorhang ging mitten durch Europa und die Berliner Mauer, die ein Jahr vor Beginn des Konzils errichtet wurde, teilte nicht nur eine Stadt. Sie teilte die Welt in die, wie man damals sagte, erste und in die zweite Welt. Durch die Mithilfe von Papst Johannes XXIII., der in diesen kritischen Wochen das Zweite Vatikanische Konzil eröffnete und die Enzyklika Pacem in terris (1963) veröffentlichte, konnte die Krise entschärft werden.

Heute, 50 Jahre später, konnte dieser Konflikt durch die Mithilfe eines anderen Papstes weiter entspannt werden, der nicht aus der ersten und nicht wie Johannes Paul II. aus der zweiten Welt stammt, sondern vom anderen Ende der Welt, aus der damals so bezeichneten Dritten Welt, heute gewöhnlich als Global South bezeichnet.

Die Dritte Welt war im Schatten der Ost-West-Auseinandersetzung durch die Entkolonialisierung der Länder Afrikas, Asiens und Südamerikas entstanden. Einer der letzten Akte dieser Abnabelung von Europa geschah im Jahr des Konzilsbeginns mit dem Ende des grausam geführten Algerienkrieges. Entstanden ist eine nicht mehr zweigeteilte, sondern eine polyzentrische, multikulturelle, unübersichtliche Welt, die zwar global vernetzt, aber dennoch tief verwundet ist und von offenen wie latenten politischen, sozialen, ökonomischen, religiös-kulturellen und ideologischen Konflikten durchfurcht ist und die sich in einem atemberaubenden Tempo täglich weiter verändert.

Das Konzil stand mitten in diesen die Welt verändernden Prozessen. Vor allem durch die Teilnahme von Bischöfen aus der Dritten Welt ist die Kirche durch das Konzil, wie Karl Rahner formulierte, in neuer Weise Weltkirche geworden, (2) und damit selbst Kirche im Übergang. In dieser Lage sollte sie sich im Konzil fit machen, einer sich rasch verändernden Welt das Evangelium zu verkünden und Orientierung zu geben. Papst Benedikt hat das Konzil als Gnadengeschenk des vergangenen Jahrhunderts und als sicheren Kompass für das begonnene neue 21. Jahrhundert bezeichnet. (3) Es ist der Anfang eines neuen Anfangs.

Das führt uns zu einigen Frage: Was hat das Konzil gebracht? Welche Wirkungsgeschichte hat es ausgelöst? Welche Zukunftsperspektiven tun sich auf? Und schließlich: wohin führt Papst Franziskus die Kirche?

II. Das Konzil – Aufbruch ins 3. Jahrtausend


Lassen Sie mich den konziliaren Aufbruch zunächst aus meiner persönlichen Erfahrung beschreiben. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Abend des 25. Januar 1959. Ich war damals ein junger Priester und saß zusammen mit einigen Kollegen vor dem Radio – Fernsehen gab es damals noch nicht – um die Abendnachrichten zu hören. Es traf uns wie ein Schlag, als gemeldet wurde, Papst Johannes XXIII. habe an diesem Tag in San Paolo fuori le mura in Rom eine römische Diözesansynode, die Reform des Kanonischen Rechts und ein Ökumenisches Konzil angekündigt. Das war Überraschung pur.

Aus der Überraschung pur wurde bald Erwartung pur. Die Ankündigung des Konzils wirkte elektrisierend. Zwar hatte kaum jemand mit einem Konzil gerechnet, aber was das Konzil dann gebracht hat, ist nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern wurde schon zwischen den beiden Weltkriegen und danach durch innerkirchliche Erneuerungsbewegungen vorbereitet.

Ich wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg in der katholischen Jugendbewegung auf und wurde von den Schriften von Romano Guardini geprägt. Schon 1922 schrieb er den später oft zitierten Satz: „Die Kirche erwacht in den Seelen.“ (4) Nach dem vorzeitig abgebrochenen Ersten Vatikanischen Konzil, das Primat und Unfehlbarkeit des Papstes definiert hatte, aber weder von den Bischöfen noch von den Laien in der Kirche sprach, lernten wir, dass die Kirche nicht nur Institution, sondern vor allem Gemeinschaft ist und dass sie als Leib Christi eine tiefe mystische Dimension hat. Die Rede vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen war für uns damals wie eine Neuentdeckung und die Feier der Eucharistie als Gemeinschaftsmesse war eine neue Erfahrung.

Zu diesem Jahrhundert des Erwachens der Kirche hat vor allem die liturgische Bewegung beigetragen. Sie war ein Durchgang des Heiligen Geistes durch die Kirche. Vor allem Joseph Jungmanns Geschichte der römischen Messe (5) hat in uns Hoffnungen auf eine liturgische Erneuerung geweckt. Dazu kam die biblische Bewegung, die Entdeckung der Bedeutung des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift. Wieder war es Romano Guardini, der mir mit seinem Buch Der Herr die Bibel und die Gestalt Jesu Christi neu erschloss. (6)

Als ich dann in den 50er Jahren in Tübingen Theologie studierte, hörten und studierten wir nicht neuscholastische Theologie, sondern eine Theologie aus dem Geist lebendiger Tradition im Sinne der beiden Wegbereiter des Konzils, Johann Adam Möhler (1796-1838) und John Henry Newman (1801-1890). Wir wurden in die moderne historisch-kritische Exegese eingeführt und lernten von der französischen Théologie nouvelle (H. de Lubac, Y. Congar, J. Daniélou, M.-D. Chenu u.a.) die Gedankenwelt der Kirchenväter kennen. Da tat sich vor unseren Augen eine neue Sicht der Kirche auf. Später habe ich die frühen Schriften von Karl Rahner geradezu verschlungen. Sie haben mir Türen des Denkens und neue Horizonte für die Begegnung mit dem modernen Denken aufgestoßen. Hans Urs von Balthasars Schrift Schleifung der Bastionen war mir wie aus der Seele gesprochen. (7)

So waren in unseren Herzen Erwartungen, Sehnsüchte, Hoffnungen wach geworden, deren Verwirklichung durch die Ankündigung des Konzils unerwartet in greifbare Nähe gerückt zu sein schien. Dass eine solche Erneuerung auf Widerstände stoßen würde, war schon damals spürbar. Papst Pius XII. (1939-1958) hatte in bedeutenden Enzykliken wichtige Ideen der ekklesiologischen, biblischen und liturgischen Erneuerung aufgegriffen. In den letzten Jahren des Pontifikats kam es jedoch zu einer Stagnation. Theologen, welche später das Konzil prägen sollten, wurden zensuriert. Die Bewegung der Arbeiterpriester in Frankreich wurde gestoppt.

So standen sich schon vor dem Konzil zwei Richtungen gegenüber: Die Erneuerer, die im Grunde Konservative waren, weil sie die ältere und die ganze Tradition der Kirche zur Geltung brachten, und die Bewahrer, die einseitig auf die Tradition der letzten Jahrhunderte fixiert waren und sie fortschreiben wollten. Hinter dieser Auseinandersetzung verbargen sich nicht aufgearbeitete Probleme des Modernismusstreits am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Frage war, wie sich die Kirche zu der neuzeitlichen Welt und ihrer Kultur verhalten soll: defensiv, indem sie sich hinter Mauern verschanzt, oder dialogisch, indem sie sich den Herausforderungen mutig stellt?

Erstmalig wurden damals innerkirchliche Probleme öffentlich diskutiert. Auch innerkirchlich entstand eine öffentliche Meinung, welche während und nach dem Konzil die Rezeption des Konzils nicht unerheblich beeinflusste. Wir verfolgten die Debatten mit Hoffen und Bangen. Es gab unrealistische Übererwartungen, welche notwendigerweise in Enttäuschung umschlagen mussten. Es gab auf der anderen Seite Befürchtungen und Misstrauen, die sich ebenfalls nicht erfüllten. Die Eröffnungsrede von Papst Johannes XXIII., Gaudet Mater EcclesiaeDie Mutter Kirche freut sich, ließ aufatmen, machte Mut und vermittelte Hoffnung.

Wenn man fragt: Was hat das Konzil gebracht?, dann darf man auf diese Frage nicht mit ein paar gängigen Schlagworten antworten. Man darf sich auch nicht auf einen vagen Geist des Konzils berufen. Man muss den Buchstaben des Konzils ernstnehmen und die Dokumente genau studieren. Dabei darf man nicht einzelne Sätze, die einem passen oder auch nicht passen, aus dem Zusammenhang reißen. Man muss sie im Zusammenhang des Ganzen lesen und verstehen. Dann wird einem ein großer geistlicher und theologischer Reichtum begegnen, mit vielen noch immer nicht gehobenen Schätzen. Ich möchte ohne Anspruch auf Vollständigkeit nur vier Schwerpunkte nennen, weil man nur so die nachkonziliare Rezeption überhaupt verstehen kann:

1. Papst Johannes XXIII. gab in seiner Eröffnungsrede Gaudet Mater Ecclesiae den Ton an. Selbstverständlich wollte er an der überlieferten Lehre festhalten, aber er wollte kein Konzil, das die Lehre einfach nur wiederholt und gegenüber Abweichlern mit Verurteilungen neu einschärft. Er wollte ein pastorales Konzil, das heißt ein Konzil, das die bleibend gültige Lehre im Blick auf die „Zeichen der Zeit“ auslegt. In diesem Sinn wollte er ein aggiornamento, das heißt ein Update. Dafür war ihm die Unterscheidung wichtig zwischen der Substanz der Lehre und deren Formulierungen. Johannes XXIII. widersprach allen Unheilspropheten, die meinen, heute sei alles schlimmer als früher und es werde jeden Tag immer noch schlimmer. Das war kein naiver Fortschrittsoptimismus. Sein Mut zu einem Sprung nach vorne entsprang einem tiefen Vertrauen in die Vorsehung Gottes. Das gab ihm Mut zu einem Sprung nach vorne und zu einem Dialog mit allen Menschen guten Willens, besonders mit den anderen Kirchen. Paul VI. hat dieses Anliegen in seiner ersten Enzyklika Ecclesiam suam (1964) aufgegriffen und ausführlich entfaltet. Heute vertieft Papst Franziskus dieses Anliegen, indem er unermüdlich die Barmherzigkeit Gottes mit jedem Menschen predigt. Schon Papst Johannes XXIII. hatte gesagt, heute gelte es, nicht die Waffen der Strenge, sondern die Medizin der Barmherzigkeit anzuwenden.

2. Die Erneuerung der Kirche kann nicht in der Anpassung an die gewandelte Situation bestehen. Sie erfordert eine Erneuerung aus den Quellen des Lebens der Kirche. Darum hat das Konzil die Erneuerungsbewegungen, vor allem die liturgische Bewegung und die Bibelbewegung aufgegriffen. Die Liturgiekonstitution war nicht nur das zeitlich erste, sondern auch ein grundlegendes Konzilsdokument, in dem alle wichtigen Themen der späteren Dokumente bereits anklingen. Die Liturgie ist das schlagende Herz der Kirche. In ihr wird das Paschamysterium Jesu Christi gegenwärtig. Aber sie ist keine reine Klerikerliturgie; sie erfordert die actuosa participatio der ganzen feiernden Gemeinde. Damit hat bereits diese Konstitution das Verständnis der Kirche als Volk Gottes angedeutet, die Papst Franziskus so teuer ist, und es hat damit die Grundlagen gelegt für die Einführung der Volkssprache in der Liturgie.

So wie die Kirche aus der Liturgie, besonders aus der Eucharistie lebt, so lebt sie auch aus dem Wort Gottes. Sie ist Kirche, indem sie gläubig auf das Wort Gottes hört und es dann freimütig bezeugt. Das ist der grundlegende erste Satz der Offenbarungskonstitution Dei Verbum. Sie sagt: In seiner Offenbarung teilt uns Gott nicht etwas, einzelne Lehren und Gebote mit. Er teilt sich uns selbst mit und er ist mit der Kirche bleibend im Gespräch. Das Hören und die Bezeugung des Wortes Gottes in der Bibel ist darum die Seele des ganzen Lebens der Kirche, ihrer Pastoral wie ihrer Theologie. Papst Paul VI. hat diese These in dem Apostolischen Schreiben Evangelium nuntiandi (1975) aufgegriffen und gesagt: Die Kirche ist dazu da, um zu evangelisieren; das ist ihre tiefste Identität. Von dieser Aussage ist es kein weiter Weg zu dem programmatischen Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium von Papst Franziskus (2013).

3. In der Kirchenkonstitution Lumen gentium haben die liturgische und die biblische Erneuerung ihre Früchte für die ekklesiologische Erneuerung getragen. Dazu kommt die patristische Erneuerung durch die Théologie nouvelle. So konnte das Kirchenbild überwunden werden, in dem die Kirche in der Folge des Ersten Vatikanischen Konzils einseitig als communio hierarchica mit dem Papst in Erscheinung trat. Lumen gentium ging nicht mehr vom Papst und von der Hierarchie aus, sondern vom Volk Gottes und der Vielzahl seiner Charismen. Es stellte die mystische Dimension der Kirche als Leib Christi und als communio im Heiligen Geist neu heraus. Damit legte es auch die Grundlagen für die größere ökumenische Gemeinschaft mit den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften Auch bei ihnen finden sich viele Elemente der Reichtümer der Kirche Jesu Christi.

Das Konzil wollte mit dieser erneuerten Ekklesiologie die Tradition des ersten Jahrtausends mit der Tradition des zweiten Jahrtausends verbinden. Petrusamt und Kollegialität der Bischöfe, Laienverantwortung und Hierarchie, die Bedeutung der Ortskirchen in der einen Kirche, die weltweite Mission und der Dialog nach innen und nach außen. Dabei blieb vieles offen; vieles musste mit Kompromissformulierungen erkauft werden. (8) Das machte den Rezeptionsprozess nach dem Konzil schwierig und oft kontrovers. Papst Franziskus möchte vieles, das liegen geblieben, vergessen oder auch verdrängt wurde, wieder hervorholen. Mit ihm ist der Rezeptionsprozess in eine neue Phase eingetreten. Er macht Ernst, dass die Kirche immer der Erneuerung und der Reform bedarf.

4. Die vierte großen Konstitution, die Pastoralkonstitution Gaudium et spes, hat die Kirche in der Welt von heute zum Thema. Schon der Titel ist wichtig. Er lautet nicht: Die Kirche und die Welt von heute, sondern: Die Kirche in der Welt von heute. Kirche und Welt stehen sich nicht wie zwei Blöcke gegenüber. Die Kirche lebt in der Welt, und die Welt ragt auch in die Kirche herein. Darum will die Kirche, wie es gleich im ersten Satz heißt, die Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst der Menschen, besonders der Armen und Bedrängten aller Art teilen. Mit dieser Solidarität nimmt die Kirche die Welt ernst. Sie will darum die legitime Autonomie der Kultur, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik anerkennen und achten. Das bedeutete das Ende der langen konstantinischen Epoche der Einheit von Kirche und Staat.

Am schwierigsten fiel der Abschied vom dem alle Lebensbereiche betreffenden Zuständigkeitsanspruch der Kirche und die Anerkennung des Menschenrechts der Religionsfreiheit. Um diese Fragen wurde auf dem Konzil bis zum Schluss gerungen. Man lernte von Nordamerika, dass die Unterscheidung von Kirche und Staat kein feindliches Gegenüber sein muss, wie es sich in Europa seit der französische Revolution oft herausgebildet hatte. Man lernte auch von den Ländern Osteuropas, die unter der Herrschaft des Kommunismus zu leiden hatten, wie wichtig eine solche Unterscheidung ist. Die Aufgabe alter Machtansprüche war in Wirklichkeit eine Befreiung der Kirche. Sie gab ihr die Freiheit zurück zur Ausübung ihrer ureigenen Aufgabe, das Evangelium frei und unabhängig zu verkünden.

Das war der Anfang einer neuen Epoche der Kirchengeschichte. Aber es war nur ein Anfang. Denn die Situation der Armut und der Unterdrückung in den Ländern des Südens, die nach dem Konzil brennend werden sollte, wurde zwar nicht einfach vergessen, aber sie stand trotz des Drängens einzelner Konzilsväter noch nicht im Fokus. (9) An dieser Stelle weist das Konzil über sich hinaus. Es war eine Ouvertüre, oder besser gesagt eine unvollendet gebliebene Symphonie. Aber immerhin, es spielte eine Musik, die anders, neu, frisch und frei klang und die zum mitspielen und weiterspielen einlud.

III. Die schwierige und nicht abgeschlossene Rezeption des Konzils


1. Das Konzil ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Es hat uns ein reiches Erbe hinterlassen, aber es hat auch Fragen offen gelassen und die sich rasch verändernde Welt stellte bald neue Fragen. Es ging dem Zweiten Vatikanischen Konzil wie jedem anderen Konzil zuvor. Jedes Konzil ist nicht nur der Endpunkt, sondern immer auch der Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen. Kein Konzil ist mit der Definition einfach abgeschlossen. Auf die Definition folgt jeweils der meist nicht einfache Prozess der Rezeption. Sie kann je nach der unterschiedlichen Situation in den Ortskirchen unterschiedlich verlaufen. Letztlich ist die Rezeption wie das Konzil selbst eine pneumatologische Wirklichkeit. Sie ist Werk des Heiligen Geistes, welcher der Kirche verheißen ist, damit die Kirche in der ein für alle Mal ergangenen Offenbarung bleibt; zugleich soll der Heilige Geist sie immer neu in die volle Wahrheit einführen (vgl. Joh 14,26; 15,26; 16,13). (10)

Jeder, der mit der Konzilsgeschichte vertraut ist weiß, dass nachkonziliare Zeiten oft schwierige und oft sogar wirre Zeiten waren. Das war schon nach dem ersten allgemeinen Konzil von Nikaia (325) und den darauf folgenden Auseinandersetzungen mit dem Arianismus der Fall. Das wiederholte sich nach dem vierten allgemeinen Konzil von Chalkedon (451), das zu einem bis heute fortdauernden Schisma mit den orientalisch-orthodoxen Kirchen führte. Die Rezeption des Trienter Konzils (1545-1563) hat nicht nur 50 Jahre, sondern fast 500 Jahre gebraucht. Die stürmischen Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil stehen also in bester Konzilstradition.

2. Da die Situation der Kirche in Europa und in Nordamerika sehr verschieden ist von der in der südlichen Hemisphäre, ist auch der Rezeptionsprozess verschieden verlaufen. Die lateinamerikanische Situation war von Armut und zwischen 1965 und 1985 von Gewalt durch brutale Militärdiktaturen bestimmt. So stand die Theologie seit der Konferenz von Petropolis (1964) vor der Frage: Was bedeutet die christliche Botschaft im Kontext von Armut und Unterdrückung? Diese Frage wurde zum gemeinsamen Nenner aller im Einzelnen unterschiedlichen Richtungen der Theologie der Befreiung, (11) die in Argentinien mehr eine Theologie des Volkes und der Kultur ist. (12) Allen Richtungen gemeinsam ist die die vorrangige Option für die Armen. Das war die lateinamerikanische Form der Rezeption des Konzils. Der lateinamerikanische Bischofsrat (CELAM) hat sie sich in Medellín (1968), Puebla (1979), San Domingo (1992) und Aparecida (2007) zu Eigen gemacht.

Die in Lateinamerika entwickelte Theologie der Befreiung ist in Afrika und Asien sowie in der feministischen Theologie weiterentwickelt worden. Ich beschränke mich auf die Auswirkungen in der westlicher Welt und auf die Rezeption in der  katholischen Kirche. Auch in der westichen Welt gab es unter den Bischöfen und Theologen neben kritischen auch wohlwollende Stimmen. Wohlwollend wurde die Theologie der Befreiung vor allem im Umfeld der von Johann Baptist Metz angestoßenen politischen Theologie aufgenommen. (13) Das Problem der Armut und einer armen Kirche wurde aber auch von bedeutenden Theologen, die nicht zur Theologie der Befreiung zählen, lebhaft diskutiert (Y. Congar, M.-D. Chenu, K. Rahner, J. B. Metz u.a.). (14)

Andere – auch in Lateinamerika – gingen von der traditionellen katholischen Sozialallehre aus und hatten Einwände. Sie betrachteten die Theologie der Befreiung als Marxismus oder Sozialismus in christlichem Gewand. Bei der Kritik an der poltischen Theologie in der Theologie der Befreiung konnte man den Spieß aber auch umdrehen und in der in den USA entwickelten neokonservativen Theologie ebenfalls politische Theologie finden. (15)

Die lehramtliche Position findet sich in der Instruktion der Glaubenskongregation von 1984 zu manchen Aspekten (!) der Theologie der Befreiung. Sie fand großes öffentliches Echo und hatte für manche Theologen (L. Boff, J. Sobrino u.a.) Zensuren zur Folgen. Die zweite Instruktionen der Glaubenskongregation von 1986 war bereits milder gestimmt, und bald ging das Grundanliegen, die vorrangige Option für die Armen, in Dokumente des universalen Lehramtes ein. (16) Insofern ist der lateinamerikanische Beitrag zur Konzilsrezeption heute Gemeingut der kirchlichen Lehre. Der gegenwärtige Präfekt der Glaubenskongregation steht vor allem der von Gustavo Gutierrez vertretenen Form der Befreiungstheologie sehr aufgeschlossen gegenüber. (17)

3. Die Rezeption in Europa verlief anders. Sie war nicht am Problem der Befreiung, sondern dem der Freiheit und der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte interessiert. Diese Auseinandersetzung wurde 1968 unmittelbar nach dem Ende des Konzils durch die Emanzipationsbewegung aktuell, die als Studentenrevolution bekannt ist, die aber auch als eine gesamtgesellschaftiche Kulturrevolution bezeichnet werden muss, die auch in die Kirche hineinwirkte. Der Aufbruch des Konzils und die christliche Freiheit einerseits und neomarxistisches wie liberalistisch-individualistisches Gedankengut andererseits gingen oft durcheinander.

Manche meinten, das Konzil habe durch Kompromisse noch zu viele überholte Traditionen mitgeschleppt und es sei nun, nachdem das Konzil sozusagen die erste Raketenstufe gezündet hat, an der Zeit, auch die zweite Raketenstufe zu zünden. Doch bald glich diese zweite Raketenstufe einem Raumschiff, das außer Kontrolle geraten war. Die Enzyklika Humanae vitae (1968) mit ihrem Verbot der künstlichen Empfängnisregelung führte zusätzlich zu einer heißen Diskussion um die persönlichen Gewissensfreiheit. Auf diesem Hintergrund fanden in den 70er Jahren eine Reihe von nationalen Pastoralsynoden stand. (18) Diese moraltheologische Debatte ging jedoch während des gesamten Pontifikats von Johannes Paul II. weiter. (19) Unter Papst Franziskus wird sie in der Bischofssynode zum Thema der Familie im Herbst diesen Jahres erneut zum Thema.

4. Den als progressiv bezeichneten Postionen standen schon bald traditionsorientierte Positionen gegenüber. In reaktionärer Form meldeten sie sich in der Pius-Bruderschaft des Erzbischofs Marcel Lefebvre zu Wort. Er warf dem Konzil in wesentlichen Aussagen, besonders in der Frage der Religionsfreiheit, Verrat an der Tradition vor. (20) Seine Anhänger halten das Konzil für einen kirchengeschichtlichen Unfall und für das größte Unglück der neueren Kirchengeschichte. Es ist jedoch kurzschlüssig, zu meinen, dass alles, was nach dem Konzil geschah, auch wegen des Konzils geschehen ist.

Bald gab es auch Kritik von Theologen, die während des Konzils zu den Progressiven zählten. Sie kritisierten nicht das Konzil selbst, sondern seine verfälschende Rezeption. Die Kritik kam von Jaques Maritain und Louis Bouyer. (21) Auch Paul VI. sprach 1968 von einer Selbstauflösung der Kirche. Wichtig wurde der Glaubensreport von Kardinal Joseph Ratzinger von 1985, der sich in der Stimmung wie in der Wertung deutlich von seinen früheren, eher begeisterten Berichten von den einzelnen Sitzungsperioden unterschied. (22) Ähnlich kritische Töne finden sich beim späten Henri de Lubac, bei Avery Dulles und schließlich bei Hans Urs von Balthasar, den man schon als den großen Abwesenden beim Konzils bezeichnet hat. (23) Auch der hoch angesehene Konzilshistoriker Hubert Jedin und viele andere äußerten Fragen und Bedenken zur Konzilsrezeption. (24)

Kein Einsichtiger wird alle diese Fragen und Bedenken in den Wind schlagen wollen. Die nachkonziliare Krise war unübersehbar. Die lehramtlichen Auseinandersetzungen mit Hans Küng, Edward Schillebeecks, Charles Curran und anderen machten die Krise offenbar. Die Begriffe konservativ und progressiv hatten jetzt eine andere Bedeutung, als sie es zu Zeiten des Konzils hatten. Während des Konzils waren die Progressiven die wahren Konservativen, welche die ältere Tradition vertraten. Bei den neuen Progressiven dagegen stand nicht so sehr die Tradition, sondern die Auseinandersetzung mit der Moderne im Vordergrund des Interesses, während die Vertreter der Tradition jetzt als die Konservativen galten.

5. Die Tradition ist jedoch keine starre Größe. Sie ist im Heiligen Geist eine lebendige Tradition, eine ständig sprudelnde Quelle frischen Wassers. (25) Tradition und Innovation sind kein Gegensatz. Die Tradition ist eine lebendige Tradition. So fehlte es auf der Grundlage des Konzils nicht an neuen Entwürfen. Sie trugen, bei Unterschieden im Einzelnen, zumeist den Titel ‚Einführung‘: Einführung in das Christentum (Joseph Ratzinger, 1968), Einführung in den Glauben (Walter Kasper, 1972) oder Einführung in den Begriff des Christentums (Karl Rahner, 1976). Dazu kam die große Trilogie von Hans Urs von Balthasar: Theologische Ästhetik, Theo-Pragmatik, Theo-Logik (1961-1987). Dazu kamen viele andere Versuche, auf dem Boden des Konzils in einen seriösen Dialog mit der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte sowie in den ökumenischen und interreligiösen Dialog einzutreten.

Natürlich reichen Bücher nicht aus. Es braucht lebendige Gemeinschaften, in denen die Kraft des Evangeliums gelebt und bezeugt wird. In diesem Sinn sind als eine Frucht des Konzils viele neue Geistliche Gemeinschaften entstanden. Sie haben die Impulse des Konzils in unterschiedlicher Weise aufgenommen und weitergeführt, das geistliche Leben in der Kirche bereichert und den ökumenischen Dialog aufgenommen. (26) Auch die Praxis der Volksfrömmigkeit, besonders Wallfahrten und eucharistische Anbetung, lebten wieder auf und werden heute zunehmend wieder geschätzt. Es fehlte und fehlt also auch in Europa nicht an neuen, vom Konzil angestoßenen Aufbrüchen.

6. Vor dem Hintergrund dieser Rezeptionsgeschichte muss die amtliche Rezeption gesehen werden. Schon 1985, 20 Jahre nach dem Abschluss des Konzils, versuchte die außerordentliche Bischofssynode eine erste Bilanz zu ziehen. Sie bemühte sich um Ausgewogenheit und sprach von Licht wie Schatten der Rezeption. (27) Zu einer gewissen Stabilisierung kam es liturgisch durch das neue Missale (1970), durch die Neukodifizierung des lateinischen und ostkirchlichen Kirchenrechts (1983 und 1990) und durch den Katechismus der Katholischen Kirche (1993), den Johannes Paul II. als wichtigen Beitrag zur Erneuerung des kirchlichen Lebens, wie sie vom Zweiten Vatikanischen Konzil gewollt und eingeleitet werden sollte, verstand.

Das neue Kirchenrecht sollte die konziliare Lehre von der Kirche in kanonistische Sprache und Rechtsformen übersetzen. Manche Kanonisten verstehen den neuen Kodex als letztgültige lehramtliche Interpretation des Konzils. (28) Das ist schon deshalb nicht möglich, weil das Kirchenrecht nur die äußere Rechtsgestalt der Kirche ordnen kann, aber nicht die geistliche Tiefendimension erfasst. So kritisieren andere, dass das neue Kirchenrecht zwar viele Verbesserungen gebracht hat, in vielen Fragen aber (etwa in der Frage der Kollegialität und der Mitwirkung der Laien) mit seiner Rezeption hinter dem Konzil zurückgeblieben ist und die Konzilsrezeption keineswegs abgeschlossen hat. (29)

Zu den genannten Dokumenten kam eine Unzahl von Dokumenten römischer Dikasterien, die bei bestem Willen niemand alle lesen und schon gar nicht geistig verdauen konnte. Die Dokumente zitierten sich immer wieder gegenseitig; man drehte sich im Kreis. Die defensive Mentalität vieler Dokumente hat die Dynamik des Konzils in einer Art Konzilsscholastik erstickt. Der große Atem des Konzils war weg. Die von vielen erwarteten Reformen blieben aus. Das rief bei vielen Priestern und Laien Enttäuschung und Unzufriedenheit hervor, die sich in öffentlichen Erklärungen Luft machte. (30) Das Jubiläumsjahr 2000 war nochmals eine imposante, von Johannes Paul II. programmatisch angelegte Heerschau. (31) Aber während des langen Sterbeprozesses des Papstes ist auch die Aufbruchsdynamik langsam erstorben. Eine säkulare Welt breitete sich aus und zog auch in die Kirche ein; die prophetische Kraft der Kirche schien vielen erloschen zu sein.

7. Das Pontifikat Benedikt XVI. brachte nochmals eine bedeutsame Auseinandersetzung um die Hermeneutik des Konzils. (32) In seiner ersten Weihnachtsansprache an die römische Kurie am 22. Dezember 2005 sprach der Papst aus Anlass des 40. Jahrestags des Abschlusses des Konzils über die richtige und falsche Hermeneutik des Konzils. Den Anstoß gab die eindrucksvolle fünfbändige Geschichte des Konzils von Giuseppe Alberigo und der ‚Schule von Bologna‘. (33) Papst Benedikt XVI. stellte zwei gegensätzliche Hermeneutiken des Konzils einander gegenüber. Die „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“, die er der Schule von Bologna unterstellte, und die Hermeneutik der Kontinuität, die er als eine Hermeneutik der Reform, der Erneuerung des einen Subjekts der Kirche unter Wahrung der Kontinuität verstand. Wörtlich sagte er: „Die Kirche ist ein Subjekt, das mit der Zeit wächst und sich weiterentwickelt, dabei aber immer sie selbst bleibt, das Gottesvolk als das eine Subjekt auf seinem Weg.“

Damit unterschied sich Papst Benedikt klar von einem ahistorischen statischen Verständnis der Kontinuität und von der traditionalistischen Auslegung, die es in Rom gab und noch gibt. Für ihn ist die Kontinuität eine lebendige Kontinuität, eine lebendige Tradition, die man nicht mit dem Tod Pius X. oder Pius XII. ‚einfrieren‘ kann. Die Kirche ist dieselbe gestern, heute und morgen, aber sie ist eine lebendige, vom Geist Gottes geleitete Wirklichkeit, eine Kirche unterwegs.

Mit dieser Rede hat der Papst die Probleme selbstverständlich  nicht einfach gelöst. Aber er hat die Fragen wenigstens richtig gestellt. Das ist schon die Hälfte der Lösung. Die entscheidende weitere Frage lautet nun: Was heißt Reform? Was ist wahre und was ist falsche Reform? (34) Was heißt Erneuerung, die nicht Neuerung ist? Was heißt Kontinuität, die nicht bloße Wiederholung, sondern innovative Kontinuität und lebendige Tradition ist, die Papst Franziskus die ewige Neuheit des Evangeliums nennt? (35)

Diese konstruktiv in die Zukunft weisenden Elemente kamen leider nicht zum Zug. Es kam zu Irritationen durch die Zulassung der Messfeier nach dem Missale Johannes XXIII. (die sogenannte tridentinische Messe) als außerordentlicher Ritus (2007) und die Aufhebung der Exkommunikation der Lefebvre-Bischöfe, darunter eines notorischen Holocaustleugners (2009). Die Pädophilie-Skandale wie Skandale in der römischen Kurie selbst ramponierten das Ansehen der Kirche nach außen und drückten die Stimmung innen. Es brauchte einen neuen Start; ein frischer Wind war nötig. Die Stimme der Kirche der südlichen Hemisphäre musste zu Gehör kommen. Das führte nach dem überraschenden Amtsverzicht von Papst Benedikt am 13. Februar 2013 zur Wahl von Papst Franziskus.

IV. Zukunftsweisende Impulse bei Papst Franziskus


Schon allein der Name Franziskus war ein Programm. Er zeigte, dass der Geist des Konzils nicht erloschen, sondern die Glut unter der Asche noch am Brennen war. Das Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium (2013) hat das Programm der Erneuerung ausführlich dargestellt. Ich beschränke ich mich wieder auf die wichtigsten Punkte. (36)

1. Papst Franziskus ist der erste Papst, der aus der südlichen Hemisphäre, oder wie er selber sagte, vom anderen Ende der Welt kommt. Die Begegnung der Konzilsrezeption des Südens mit der des Westens hatte wie unterirdische tektonische Verschiebungen von Erdplatten ein Erdbeben zur Folge. Einiges, das schlecht gebaut war, stürzte fast über Nacht ein. Die soliden Fundamente hielten stand, auf ihnen kann ein Neuaufbau in Angriff genommen werden. Die Kurienreform ist dabei nur ein Aspekt, und nicht der wichtigste. Papst Franziskus macht immer wieder klar: Eine Reform der Institutionen ohne eine Reform der Mentalität, oder wie er sagt: ohne wahre und tiefe conversio der Pastoral, des Episkopats und des Papsttums wäre wie das Dreschen von leerem Stroh.

2. Das solide Fundament, auf dem der Papst aufbauen will, sind das Zweite Vatikanische Konzil und die Lehre der Kirche, die dem Konzil zu Grunde liegt. Es geht ihm um Kontinuität, aber um Kontinuität der Reform. Er will den Aufbruch des Konzils neu beleben und ihn weiterführen. Grundlage ist ihm die Freude des Evangeliums. Sein Ansatz ist weder liberal noch konservativ, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes evangelikal-radikal. Er geht zurück auf die Wurzel (radix). Die Frohe Botschaft von der unendlichen Barmherzigkeit ist ihm Mitte des Evangeliums. Sie soll zum Tragbalken des Lebens in der Kirche und zur Verstehenshilfe für die Lehre und die Moral der Kirche werden. (37) Mit dieser Botschaft hat er die Herzen vieler Menschen berührt. Denn wer von uns ist nicht auf Barmherzigkeit angewiesen?

3. Die Auswirkungen zeigen sich in der Ekklesiologie. Ganz im Sinn der argentinischen Theologie steht bei Papst Franziskus die Kirche als Volk Gottes, das unterwegs ist, im Vordergrund. Damit bringt er viele nach dem Konzil nicht ausgeschöpfte, manchmal sogar zurückgedrängte Motive wieder zur Geltung: Den sensus fidei aller Gläubigen, die Bedeutung der Ortskirchen innerhalb der einen Kirche, die kollegiale und synodale Struktur der Kirche, den ökumenischen und den interreligiösen Dialog. Es geht Papst Franziskus um eine Kirche in permanenter Mission, eine Kirche im Aufbruch an die Peripherien, die sich besonders den Armen, den Zukurzgekommenen, den Vergessenen barmherzig zuwendet.

4. Papst Franziskus will eine arme Kirche für die Armen. Das Konzil hatte das Problem der Armut in der Welt nicht vergessen, aber es stand noch nicht so im Fokus, wie es Bischöfe aus Lateinamerika wie Hélder Câmara, Aloiso Lorscheider, aber auch Kardinal Giacomo Lercaro von Bologna und andere Bischöfe wollten. Papst Franziskus hat dieses Anliegen jetzt neu auf die Tagesordnung gesetzt. Durch ihn hat die Kirche ihre prophetische Sprache wieder gefunden. In der Enzyklika Laudato si' kommt die Bewahrung der Schöpfung und die Forderung einer Human-Ökologie hinzu. Er will eine Welt, in der Menschen in Würde und in Harmonie gerecht und barmherzig zusammen leben können. Den Widerstand gegen die Kritik an einem entfesselten und zerstörerischen Kapitalismus darf man nicht unter-schätzen. Der Seligsprechung des Erzbischofs Oskar Romero von San Salvador als Märtyrer kommt hohe Symbolbedeutung zu – für Lateinamerika und weit darüber hinaus.

Lassen Sie mich schließen. Das Zweite Vatikanische Konzil war ein Werk des Heiligen Geistes, ein Geschenk für die Kirche, ein Geschenk zum Weitergeben. Es hat eine Dynamik freigesetzt. Papst Franziskus hat diese Dynamik neu entfesselt. Das Jahrhundertprogramm, das er aufgestellt hat, kann nicht in der kurzen Spanne eines einzigen Pontifikats abgearbeitet werden. Papst Franziskus weiß das. Er setzt nicht auf Positionen, sondern auf Prozesse, die er einleitet. So wird die Konzilsdynamik unser 21. Jahrhundert weiter in Atem halten und die Gestalt der Kirche im dritten Jahrtausend prägen.

Doch bleiben wir auf dem Boden der Realitäten. Alle Geschichte, auch die Kirchengeschichte, steht im Zeichen des Kreuzes und unter dem eschatologischen Vorbehalt. Die volle Verwirklichung des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit, die vollendete Freiheit der Kinder Gottes werden in dieser Welt immer Zukunftshoffnung sein, manchmal sogar eine Hoffnung gegen alle Hoffnung. Was wir leisten können, werden immer nur Fragmente und Bruchstücke sein, welche wenigstens einen Strahl des Lichts der eschatologisch vollendeten Welt in unsere Welt hereinfallen lassen. Dafür lohnt es sich, zu leben, zu arbeiten, zu beten und zu leiden.

Die schwierige Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils nach dem Konzil zeigt: Auch in schwierigen Zeiten ist der Geist Gottes mit der Kirche. Es ist nun an einer neuen Generation, die Musik, die das Konzil vor 50 Jahren angestimmt hat, weiterzuspielen, bis die Symphonie am Ende der Zeit vollendet sein wird. Machen wir uns auf den Weg! Die christiche Hoffnung trügt nicht! Die Zukunft hat schon begonnen.

(1) Aus der reichen jüngeren Literatur können hier nur einige Titel genannt werden: P. Hünermann/J. Hilberath, Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil), 5 Bde., Freiburg 2004 – 2006; F. X. Bischof/S. Leimgruner, Vierzig Jahre II. Vatikanum – zur Wirkungsgeschichte der Konzilstexte, Würzburg 2004; G. Wassilowsky, Zweites Vatikanum – vergessene Anstöße, gegenwärtige Fortschreibungen (QD 207), Freiburg i. B. 2004; G. Alberigo/K. Wittstadt, Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965), 5 Bde., Mainz – Leuven 1997-2008; J. W. O’Malley, What Happened at Vatican II, Cambridge (Mass.) – London 2008; P. Hünermann, Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, Freiburg 2006; C. Theobald, Vatican II et la théologie. Perspectives pour le XXIe siècle, Paris 2006; La Réception du concile Vatican II. Vol. I: Accéder à la source, Paris 2009; Vatican II comme style, Paris  2012; P. Bordeyne, Vatican II et la théologie, Paris 2010; J.-H. Tück, Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg 22013; D. Ansorge, Das Zweite Vatikanische Konzil, Münster 2013; A. U. Müller, Aggiornamento in Münster. Das II. Vatikanische Konzil. Rückblick nach vorn, Münster 2014; G. Routhier, Cinquante ans après Vatican II, Paris 2014. Zu K. Rahner vgl. Anm. 2; zu J. Ratzinger vgl. Anm. 22

(2) K. Rahner, Das Konzil – ein neuer Beginn. Mit einer Hinführung von K. Lehmann, Freiburg 2012. Außer-dem: ders., Die Herausforderung der Theologie durch das Zweite Vatikanische Konzil, in: Schriften zur Theologie, Bd. 8, Einsiedeln 1968, 13-42; ders., Theologische Grundinterpretation des II. Vatikanischen Konzils, in: ebd., Bd. 14, Einsiedeln 1980, 287-302; ders., Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils, in: ebd., 303-318.

(3) Benedikt XVI., Motu proprio „Porta fidei“ vom 11. Oktober 2011, 5.

(4) R. Guardini, Vom Sinn der Kirche (1922), Mainz 1955, 19.

(5) J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, 2 Bde., Freiburg 21949; 51962.

(6) R. Guardini, Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi, Aschaffenburg 1948.

(7) H. U. von Balthasar, Schleifung der Bastionen. Von der Kirche in dieser Zeit, Einsiedeln 1952.

(8) A. Acerbi, Due ecclesiologie. Ecclesiologia giuridica ed ecclesiologia di comunione nella Lumen gentium, Bologna 1975. Grundsätzlich zum Kompromisscharakter des Konzils M. Seckler, Über den Kompromiss in Sachen der Lehre, in: Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kirche, Freiburg 1980, 99-109.

(9) Drei Wochen vor Konzilsende schlossen 40 Bischöfe, darunter so bekannte Namen wie Hélder Câmara und Aloísio Lorscheider in der Domitilla-Katakombe in Rom den sogenannten Katakomben-Pakt „Für eine arme und dienende Kirche“. Damit war der Same gelegt, der nachher in der Befreiungstheologie aufgehen sollte.

(10) Y. Congar, La „réception“ comme réalité ecclésiologique (1972), in: Église et Papauté, Paris 1994, 229-266; A. Grillmeier, Konzil und Rezeption, in: Mit ihm und in ihm, Freiburg i. Br. 1995, 303-334; G. Routhier, La réception d’un concile, Paris 1993; W. Beinert, Die Rezeption und ihre Bedeutung für Leben und Lehre der Kirche, in: W. Pannenberg/T. Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis, Bd. 2, Freiburg i. Br. – Göttingen 1995, 193-218; Theobald, Vatican II et la théologie. Perspectives pour le XXIe siècle (wie Anm. 1).

(11) Als Vater der Theologie der Befreiung gilt G. Gutierrez, Teología de la Liberación, Lima 1972; zusammenfassende Darstellung: I. Ellacuría/J. Sobrino, Mysterium liberationis, Madrid 1990.

(12) Wichtigster Vertreter L. Gera; vgl. J. C. Scannone, La teología de la liberación. Caracterización, corrientes, etapas, in: Stromata 38 (1982) 3-40; P. Sudar/L.Gera u.a. (Hg.), Evangelización, liberación y reconcilición. Hacia la Nueva evangelización, Buenos Aires 1988.

(13) M. Sievernich (Hg.), Impulse der Befreiungstheologie für Europa, München – Mainz 1988; P. Hünermann/G. D. Fischer, Gott im Aufbruch. Die Provokation der lateinamerikanischen Theologie, Freiburg 1974; P. Hünermann/S. C. Scannone (Hg.), Lateinamerika und die katholische Soziallehre, Mainz 1989. In Deutschland kann man nennen: Das Institut für Theologie und Politik in Münster, die Missionszentrale der Franziskaner, das Bischöfliche Werk Misereor und das Stipendienwerk Lateinamerika – Deutschland e.V. (ICALA) unter Peter Hünermann.

(14) Y. Congar, Für eine dienende und arme Kirche, Mainz 1965; Armut im christichen Leben, in: Conc(D) 2 (1966) 343-354; M.-D. Chenu, L’Église des pauvres à Vatican II, in: Conc(D) 12 (1977) 75-80; K. Rahner, Die Unfähigkeit zur Armut in der Kirche, in: Schriften zur Theologie, Bd. 10, Einsiedeln 1972, 520-530; J. B. Metz, Zeit der Orden ? Zur Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg 1977, 48-63.

(15) M. Novak: Will it liberate? Questions about liberation theology, New York 1986; Liberation theology and the liberal society, Washington, D.C. 1987. Im weiteren Umfeld gehört dazu R. J. Neuhaus und das von ihm gegründete einflussreiche Magazin First Things (1990ff).

(16) Vgl. die Enzykliken Sollecitudo rei socialis (1987), 42, und Centesimus annus (1991), 57; Benedikt XVI. in der Eröffnungsansprache in Aparecida (2007).

(17) G. L. Müller, Armut. Die Herausforderung für den Glauben, München 2014.

(18) Niederländisches Pastoralkonzil (1966-1970), Synode der (west)deutschen Bistümer (1971-1975), Pastoralsynode der DDR (1973-1975), Schweizer Synode (1972-1975), Österreichischer Synodaler Vorgang (1973-1975).

(19) Vgl. Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (1981); Enzyklika Veritatis splendor (1993) und Evangelium vitae (1995).

(20) Y. Congar, Der Fall Lefebvre. Schisma in der Kirche? Freiburg i. Br. 1977; M. A. Schifferle, Die Piusbruderschaft. Informationen – Positionen – Perspektiven, Kevelaer 2009. Zur Diskussion zwischen Erzbischof Lefebvre und Rom, insbesondere mit Kardinal Joseph Ratzinger: G. Routhier, Sull'interpretazione del Vaticano II. L’ermeneutica della riforma, compito per la teologia, in: Riv del clero italiano 2011, 744-759.827-841.

(21) J. Maritain, Le paysan de la Garonne, Paris 1966; L. Bouyer, La Décomposition du catholicisme, Paris 1969.

(22) J. Ratzinger, Bericht zur Lage des Glaubens, München 1985; alle weiteren sehr eingehende Analysen in den Gesammelten Schriften, Bd. 7/2, 2012.

(23) H. de Lubac, Entretiens autour Vatican II, Paris 2007; Carnet du Concile, 2 tom, Paris 2007; A. Dulles, Vatican II: The Myth and the Reality, in: The National Catholic Revue, Februar 2003; zu Balthasar, Hans Urs von Balthasar und das Zweite Vatikanische Konzil, in: H. U. von Balthasar. Aspekte seiner Sendung, Freiburg 2008, 103–119.

(24) J. Jedin, Kleine Konzilsgeschichte, Mit einem Bericht über das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg 61990. Überzogen ist die Kritik bei R. de Mattei, Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, Stuttgart 2012. Er kann schon im Konzil nur Neomodernismus erkennen, dem er die Restaurationsphilosophen des 19. Jahrhunderts von J. de Maistre, L. de Bonald und D. Cortès entgegensetzt. Anders die Kulturkritik von Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt a.M. 1981.

(25) Y. Congar, La tradition et les traditions, 2 Bde., Paris 1960.1963. Zum Traditionsverständnis das Vorwort zur Neuausgabe von W. Kasper, Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule (WKGS 1), Freiburg 2011, 13-19.

(26) Fokolar-Bewegung, Comunione e Liberazione, Sant’Egidio, Gemeinschaft von Taizé, Gemeinschaft Emmanuel, Gemeinschaft der Seligpreisungen, Chemin Neuf, Legionäre Christi u.a. Vgl. Päpstlicher Laienrat, Die geistlichen Gemeinschaften der katholischen Kirche, Leipzig 2006.

(27) P. Hebblewaite, Synod Extraordinary. The inside story of the Rome Synod November-December 1985, London 1985; W. Kasper, Zukunft aus der Kraft des Konzils. Die außerordentliche Bischofssynode `85. Die Dokumente mit einem Kommentar, Freiburg i. Br. 1986; ders., Die bleibende Herausforderung durch das II. Vatikanische Konzil. Zur Hermeneutik der Konzilsaussagen (1986), in: Die Kirche Jesu Christi (WKGS 11), Freiburg i. Br. 2008, 200-211.

(28) N. Lüdecke, Der Codex Iuris Canonici. Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, Paderborn 2000, 209-237; G. Bier, Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Codex Iuris Canonici von 1918 - 1983, Würzburg 2001. Dagegen: B. J. Hilberath, Der CIC als authentische Rezeption des Zweiten Vatikanums, in: ThQ 186 (2006) 40-49.

(29) H. Legrand, Vierzig Jahre danach, Wie steht es mit den kirchlichen Reformen, die das II. Vaticanum beabsichtigt hatte, in: Conc(D) 41 (2005) 397-411; F. X. Bischof, Steinbruch Konzil? Zu Kontinuität und Diskontinuität kirchlicher Lehrentscheidungen, in: MThZ 59 (2008) 194-210.

(30) Kölner Erklärung (1989), „Wir sind Kirche“ (1995), Forderung nach Reform der Glaubenskongregation (2007), Kritik der Rücknahme der Exkommunikation der Traditionalisten-Bischöfe (2009), Memorandum Kirche 2011: „Ein notwendiger Aufbruch.“

(31) Die Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente (1994) und Novo millennio ineunte (2000).

(32) Zur Konzilshermeneutik: W. Kasper, Die bleibende Herausforderung durch das II. Vatikanische Konzil. Zur Hermeneutik der Konzilsaussagen, in: Theologie und Kirche, Bd. 1, Mainz 1987, 290-299; K. Lehmann, Hermeneutik für einen künftigen Umgang mit dem Konzil, in: Wassilowsky, Zweites Vatikanum (wie Anm. 1), 71-89; Hünermann, Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute (wie Anm. 1), 11-26. Überblick bei P. Hünermann in: Herders Theologischer Kommentar (wie Anm. 1), Bd. 5, 7-10; Tück, Erinnerung an die Zukunft (wie Anm.1), 94-123.

(33) Die ‚Schule von Bologna‘, konkret: das Istituto per le scienze religiose, hat unter der Leitung von G. Alberigo, später von A. Melloni eine fünfbändige Geschichte des II. Vatikanischen Konzil Konzils (1959-1965) veröffentlicht (1995-2000). Deutsch: Mainz 2001-2007.

(34) Y. Congar, Vraie et fausse réforme dans l’Église, Paris 1950; Groupe de Dombes: Für die Umkehr der Kirchen. Identität und Wandel im Vollzug der Kirchengemeinschaft, Frankfurt a. M. 1994; J. Ratzinger, Was heißt Erneuerung der Kirche?, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8/2, 1186-1202; Eine Gemeinschaft auf dem Weg. Von der Kirche und ihrer immerwährenden Erneuerung, in: ebd., 1216-1230; W. Kasper, Katholische Kirche. Wesen-Wirklichkeit-Sendung, Freiburg 2011, 252-254.

(35) Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium  (2013), 11.

(36) Zum Folgenden: W. Kasper, Papst Franziskus. Revolution der Zärtlichkeit und der Liebe. Theologische Wurzeln und pastorale Perspektiven, Stuttgart 2015 mit weiterer Literatur; neu: M. Faggioli, Pope Francis. Tradition in Transition, New York 2015.

(37) Verkündigungsbulle des außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit Misericordiae vultus (2015).