60. Jubiläum des Lutherischen Weltbundes in Lund/ Schweden

The House of Europe

Response by Cardinal Walter Kasper

Als erstes möchte ich Ihnen, Herr Präsident Martti Ahtissari für Ihren Vortrag danken. Ihr Vortrag war das Zeugnis eines großen Europäers und Weltbürgers. Sie haben auf Grund Ihrer reichen politischen Erfahrung gesprochen und wichtige aktuelle Fragen angesprochen. Mir fehlt diese politische Kompetenz. Deshalb möchte ich heute am 50. Geburtstag der Römischen Verträge, welche die Europäische Union begründet haben, nicht als Gegensatz zu Ihnen, sondern als Ergänzung einen anderen Aspekt ansprechen.

Was ich zu Europa sagen will, entspringt nicht politischer Erfahrung, sondern meiner persönlichen Lebenserfahrung. Als junger Gymnasiast habe ich die Stunde Null, den totalen Zusammenbruch von 1945 erlebt. 62 Millionen Menschenleben hat der Zweite Weltkrieg weltweit gekostet, riesige Flüchtlingsströme bewegten sich damals durch Europa, unschätzbare Kulturgüter wurden zerstört, nicht nur Deutschland, ganz Europa lag in Ruinen und war physisch wie moralisch am Boden.

Heutige Jugendliche können sich nicht mehr vorstellen, was es in dieser Situation für mich und viele meiner Altersgenossen bedeutete als Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gaspari die Idee eines geeinten Europas aufbrachten. Sie wollten Europa aus der tiefsten Krise seiner Geschichte herausholen und auf den Ruinen des Zweiten Weltkriegs ein erneuertes geeintes Europa bauen. Sie wollten kein Europa als Insel der Seligen. Das Haus Europa soll in dem im Entstehen begriffenen großen Weltdorf angesiedelt sein. Nachdem Europa im 20. Jahrhundert so viel Leid über die Welt gebracht hat, soll es seiner Verantwortung bewusst sein für den Frieden in der Welt, einen Frieden auf der Grundlage von Toleranz, Respekt, Freiheit und Solidarität und nicht zuletzt von Gerechtigkeit bei der Verteilung der Güter dieser Erde. Sie gehören allen Menschen gemeinsam.
Auf dieser Grundlage wurde Europa in den letzten 50 Jahren zu einer fast beispiellosen Erfolgsgeschichte. Dennoch gibt es inzwischen Europamüdigkeit und Europaverdrossenheit und Europaskepsis. Dafür gibt es viele Gründe. Den entscheidenden Grund hat der frühere Kommissionspräsident der Europäischen Gemeinschaft, Jacques Delors, angesprochen: Europa braucht eine Seele.

Ich könnte es auch weniger poetisch sagen: Europa, in dem es so viele unterschiedliche ethnische Gruppierungen und Nationen mit unterschiedlicher Geschichte, so viele unterschiedliche Sprachen, Konfessionen und Religionen gibt, kann es nur eine Einheit in Vielfalt der Kulturen, der Sprachen, der Sitten und auch der Konfessionen und Religionen geben. Europa kann kein zentralistischer Staat sein. Es muss darum Schluss sein mit dem Europa der Bürokraten und ihrer zentralistischen Regelungswut. Europa muss bürgernah sein, es muss nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebaut sein. Was die jeweils untere Ebene selbst tun kann, soll nicht von oben verordnet werden.

Aber dieses Europa braucht einen geistigen Kitt. Es braucht Werte und Ideale, welche die Menschen über alle Unterschiede hinweg verbinden, die es ihnen erlauben sich für Europa einzusetzen und sich für Europa zu begeistern.

Ich möchte nicht von den Wurzeln Europas sprechen, sondern von den Flügeln Europas, die es groß gemacht haben und die allein in der Lage sind es auch in Zukunft achtenswert zu machen: Der griechisch-römische Humanismus, die jüdisch-christliche Überlieferung, die neuzeitliche Aufklärung, kurzum das Menschenbild, das Europa ererbt das es anderen Kulturen weitergegeben hat: Die Würde jedes einzelnen Menschen, die Heiligkeit des Lebens, die Solidarität aller Menschen, die Bedeutung der Familie als Urzelle der Gesellschaft.

Europa hat dieses Erbe oft verraten. Die Geschichte Europas ist nicht nur eine Heliligengeschichte. Es ist auch eine Schuldgeschichte: in den Kreuzzügen, in den Religionskriegen, denen sich Lutheraner und Katholiken befehdet und Europa im Dreißigjährigen Krieg an den Rand des Ruins gebracht haben, in der Kolonisationsgeschichte, die auch eine Ausbeutungsgeschichte war, in den beiden Weltkriegen, in den beiden menschenverachtenden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, dem Nazismus und dem sowjetischen Kommunismus, in der Shoah, der staatlich geplanten Ermordung von 6 Millionen Juden mitten in Europa.

Viele wollen es nicht wahrhaben, dass Europa auch christliche Wurzeln hat. Man muss jedoch nur einmal von Gibraltar über Spanien, Frankreich, Deutschland und über Schweden bis nach Estland, oder vom alten Konstantinopel über Kiew nach Moskau reisen. Überall wird man das Kreuz als Wahrzeichen finden, überall wird man im Zentrum der alten Städte großartige Kathedralen sehen. Ohne Frauen und Männer wie Benedikt, Kyrill und Methodius, Martinus, Brigitta von Schweden, Elisabeth von Ungarn und Thüringen und viele andere wäre das Haus Europa nie aufgebaut worden. Ohne Martin Luther und die anderen Reformatoren kann man Europa nicht verstehen.

Aber Europa hat kulturgeschichtlich einen Sonderweg eingeschlagen. Weder Afrika, noch Asien, noch Lateinamerika, auch nicht die Vereinigten Staaten von Nordamerika, kennen das Ausmaß an Säkularisierung, das wir derzeit in Westeuropa finden, einer Säkularisierung, die einhergeht mit einem Relativismus der grundlegendsten menschlichen Werte, welcher die Menschen um ihre Seele bringt. Der Hass und die Verachtung gegenüber dem Westen, die sich bei radikalen Muslimen finden, ist auch in dieser Unkultur begründet. Ein materialistischer Neo-Kapitalismus, ein sinnentleerter Konsumismus und ein moralischer Laxismus sind keine Basis. Europa braucht eine zweite Bekehrung zu Jesus Christus. Europa muss aufwachen, vielleicht sogar aufschrecken.

Ich möchte abschließend fünf aktuelle Herausforderungen nennen:

Europa darf seine Geschichte nicht vergessen; braucht eine Erinnerungskultur. Man soll die Orientierungs- und Einigungskraft des Evangeliums nicht unterschätzen. Europa braucht wache, mutige und mündige Christen, die sich nicht wegducken, die vielmehr mit Freimut eintreten für den Glauben, für das Leben, für Freiheit und Gerechtigkeit, für die Familie, für Solidarität und für die Bewahrung der Schöpfung. Das europäische Haus steht und fällt mit solchen wachen Christen.

  • Europa muss mit beiden Lungenflügeln atmen, es muss Ost- und Westeuropa integrieren, nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch in einem Austausch der Kulturen. Dazu haben wir seit dem Fall der Berliner Mauer eine einmalige geschichtliche Chance. Wir dürfen sie nicht verschlafen, indem wir alten Ressentiments nachhängen und überholte Vorurteile pflegen.
  • Europa muss ein offenes, gastfreundliches Haus sein. Europa hat christliche Wurzeln, aber Europa ist kein christlicher Club. Gastfreundschaft ist eine alte und eine hohe christliche Tugend. Sie muss heute gegenüber anderen Religionen und Kulturen gelten, auch gegenüber dem Islam. Das setzt freilich Toleranz und Respekt auch der anderen gegenüber unserer Kultur und unseren Überzeugungen voraus.
  • Europa kann ein Modell dafür sein, dass auch nach einer komplexen und schwierigen Geschichte die Hand zu Versöhnung und Freundschaft ausgestreckt und ergriffen werden kann. Zu Europa gehört auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit in der Welt.
  • Wir können das Haus Europa nicht in Ordnung bringen, wenn wir nicht zuvor im eigenen Haus anfangen. Dazu gehören Europa und Ökumene zusammen. Wenn man ein Haus neu einrichtet, muss man gelegentlich trennende Wände abtragen, um Platz für einen für alle bestimmten größeren Wohnraum zu bekommen. Unsere konfessionellen Gegensätze waren entscheidend für die Teilung Europas. Ökumene kann ein Beitrag zur Einheit Europas sein. Unsere ökumenischen Versöhnungsprozesse sollten ein ansteckendes und ermutigendes Beispiel sein. Ein Scheitern der Ökumene könnten wir weder vor Gott noch vor der Geschichte verantworten.

Lasst uns darum an diesem 60. Geburtstag des Lutherischen Weltbundes und an diesem 50. Geburtstag der Europäischen Union ökumenisch einen neuen Anfang miteinander wagen.