Glaube und Vernunft

Ein Beitrag zur Diskussion um ein aktuelles Thema

Kardinal Walter Kasper

I.

Ein altes, von vielen längst abgehaktes Thema, das Thema „Glaube und Vernunft“ ist in den letzten Jahren überraschend neu aktuell geworden. Im Grunde ist dieses Thema so alt wie die Theologie selbst. Denn die Theologie hat sich von Anfang an vom Mythos und der mythischen Theologie abgegrenzt, und sich dem Logos und d.h. der antiken Aufklärung in der hellenistischen Philosophie zugewandt. Mit Hilfe des Prinzips „fides quaerens intellectum“ hat sie Wert darauf gelegt, dass der Glaube weder blinde Vertrauensseligkeit noch unaufgeklärter Aberglaube ist, sondern nach Verstehen sucht und fragt. [1]

Dafür, dass diese alte Frage heute neu aktuell geworden ist, gibt es vielerlei Gründe. Als ersten Grund kann man nach dem Scheitern der modernen Ideologien und Utopien das neue Aufleben und die Revitalisierung der Religion oder besser: der Religionen nennen. Gemeint ist nicht eine Flucht ins Irrationale und Emotionale, in New Age Esoterik, in Amalgame von Religion und Psychologie und manchen pseudoreligiösen Kitsch; es sind die großen Religionen, Hinduismus, Buddhismus, Islam und Christentum, die sich gegenwärtig nicht nur im privaten und persönlichen Bereich zurückmelden, sondern auch auf die öffentliche politische Bühne zurückgekehrt sind, leider oft in einer beunruhigend fundamentalistischen und gefährlich gewalttätigen Form. Die in den letzten Jahrzehnten als gesichert geltende Säkularisierungsthese, die einen fast naturnotwendigen Zusammenhang zwischen den Modernisierungsprozessen und dem Absterben bzw. der Privatisierung der Religion herstellte, wird inzwischen weithin als obsolet betrachtet. Die Religion ist zurück und verlangt nach vernünftiger Durchleuchtung und Interpretation.

Auf der anderen Seite erleben wir beunruhigende Formen der Entgleisung der Neuzeit, deren innere Dialektik und Grenzen immer mehr deutlich werden. Auf der einen Seite ist die neuzeitliche Subjektivität oft in Subjektivismus und Individualismus umgeschlagen, die sich in postmoderner Beliebigkeit und damit verbundener Entsolidarisierung der Gesellschaft zeigen. Auf der anderen Seite erleben wir eine erschreckende Verdinglichung des Menschen. Wir sehen uns einem Szientismus und Naturalismus konfrontiert, der Menschen nicht mehr als Subjekte, sondern als Objekte behandelt und sie angeblich vorgeordneten Zwecken opfert. Solche Tendenzen melden sich wie sie sich in der Hirnforschung, Biogenetik, der Diskussion um Abtreibung, in der Embryonenforschung, in ideologisch extra-polierten Evolutionstheorien wie in R. Dawkins unsäglichem Pamphlet „Der Gotteswahn“ (München 2007). In einer solchen Situation, in der das Humanum selbst auf dem Spiel steht, kann der Kampf nicht mehr wie in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in erster Linie Priesterbetrug und Obskurantismus gelten; um des Menschen willen ist eine Aufklärung der Aufklärung und eine Besinnung auf das was uns heilig ist, angesagt.

Schließlich und vor allem sind wir nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts neu mit der Theodizeefrage konfrontiert. Das 20. Jahrhundert hatte in einer Weise zuversichtlich und fortschrittsgläubig begonnen, wie sie uns heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum mehr nachvollziehbar ist. Doch die innerweltlichen Heilserwartungen sind in zwei brutalen totalitären Systemen und in zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten fürchterlich gescheitert. Auschwitz und die Gulags, dann der 11. September 2001, mit dem das 21. Jahrhundert begonnen hat, haben aufschrecken lassen, nachdenklich gemacht und uns am Fortschritt der Menschheit in der Humanität zweifeln lassen. Nun drohen viele einem kleinmütigen Defätismus oder einem zynischen Nihilismus zu verfallen. In dieser Situation beginnt man die Weisheit und das motivierende und inspirierende Potential der Religionen neu zu entdecken und fruchtbar zu machen.

II.

Einer der Wortführer in dieser Diskussion ist in den letzten Jahren Jürgen Habermas geworden. In seiner Rede zur Verleihung des Buchhandelspreises 2001 hat er unter dem unmittelbaren Eindruck des 11. September 2001 das Thema „Glauben und Wissen“ neu aufgegriffen und neu gestellt. Gleich eingangs stellte er fest, dass durch den 11. September die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion in neuer Weise explodiert ist. Während die Säkularisierung glaubte, sich theologische Aussagen aneignen anverwandeln und damit die Religion überholen zu können, sieht er sich nun dem Fortbestehen der religiösen Gemeinschaften konfrontiert; aber nicht nur das, er stellt auch fest, dass mit der säkularisierenden Übernahme, Aneignung und Anverwandlung religiöser Inhalte auch etwas verloren geht, etwas das fehlt und eine spürbare Leere hinterlassen hat. Die Vernunft hat sich mit ihrem Programm der säkularisierenden Aneignung überfordert, so dass die derart überanstrengte Vernunft nun an sich verzweifelt. Die philosophischen Begriffe sind in ihrer Abstraktheit von einer transzendentalen Blässe, so dass von ihnen wenig Motivation und Inspiration ausgeht um die gewaltigen anstehenden Probleme, vor denen wir stehen, zu bewältigen. Habermas stellt fest: Die utopischen Energien sind erschöpft (Zeitdiagnosen, 2003, 22-49); er spricht von einer schleichenden Entropie wegen der knappen Ressource Sinn.

In dieser Situation macht Habermas auf die Religion als Sinnressource aufmerksam und plädiert für eine Säkularisierung, welche keine feindliche Übernahme ist, welche die Religion nicht vernichtet oder aufzehrt, sondern sie rettend übersetzt. Er spricht von einer rettenden Dekonstruktion der Glaubenswahrheiten, in der Religion auch dem religiös Unmusikalischen etwas zu sagen hat, so dass er von ihr Abstand halten kann ohne sich ihrer Perspektive zu verschließen. Paradebeispiel einer solchen rettenden Übersetzung ist für ihn die Übersetzung der biblischen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in den Begriff der unbedingten Würde jedes Menschen.

Nach der Aufsehen erregenden Rede bei der Verleihung des Buchhandelspreises kam es 2004 bei der Katholischen Akademie in Bayern zu dem berühmten Disput mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger über “Dialektik der Aufklärung“ und „Vernunft und Religion“ (Freiburg i. Br. 2005) und am 12. September 2006 zu der bekannten Rede von Papst Benedikt XVI. in Regensburg über „Glaube, Vernunft und Universität“ (Freiburg i. Br. 2006). Die Universität Regensburg reagierte 2007 mit einer internationalen Fachtagung „Glaube und Vernunft im Kontext der universitas litterarum“ (Freiburg i. Br. 2008). Schon zuvor fand im ebenfalls 2007 an der Münchner Jesuiten-Hochschule für Philosophie eine aufschlussreiche Podiumsdiskussion mit Habermas statt. In dem Beitrag von Habermas über „ein Bewusstsein, von dem, was fehlt“ kommt weder Melancholie über ein durch die Säkularisierung unwiederbringlich Verlorenes zum Ausdruck noch weniger eine naive unaufgeklärte Aufklärung, welche die Religion überwunden zu haben meint, sondern eine aufgeklärte Aufklärung, welche sich ihrer eigenen Dialektik und ihrer Grenzen bewusst ist. Diese muss sich, um nicht an der motivierenden Kraft ihrer guten Gründe zu verzweifeln, dem aus der Säkularisierung folgenden Defätismus stellen und für eine neue kritische Aneignung und rettende Übersetzung des in den religiösen Menschheitsüberlieferungen Unabgegoltenen plädieren (Frankfurt a.M. 2008). Habermas fügt ausdrücklich hinzu, dass er damit die Religion weder ersetzen noch verdrängen will (Nachmetaphysisches Denken, 60).

Beachtet man diesen Ausgangspunkt, dann wird deutlich, wie sich dieser bereits im Ansatz vom Ausgangspunkt der Regensburger Rede von Papst Benedikt unterscheidet. Während Habermas, die unabgegoltene Aufklärung in einer aufgeklärten Weise weiterführen und retten will, hält Papst Benedikt am Modellcharakter des Bündnisses von Christentum und Hellenismus fest und kritisiert die neuzeitliche Enthellenisierung, welche sich nach ihm schon im Spätmittelalter abzeichnete und dann in der Reformation und vollends in der Neuzeit zum Durchbruch kam. Auf diese modernitätskritische Wendung hat Habermas enttäuscht reagiert (Neue Züricher Zeitung vom 10. 2. 2007). Die Frage ist also: Die Neuzeit eine Verfallsgeschichte oder ein unvollendetes Projekt, in das sich die Theologie kritisch-konstruktiv einmischen kann und soll?

Im Hintergrund der Überlegungen von Jürgen Habermas steht eine interessante geschichtsphilosophische Überlegung, die an Karl Jaspers’ Theorie von der Achsenzeit um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends anknüpft. Dort soll sich weltgeschichtlich der Schub vom Mythos zum Logos vollzogen haben, aus dem sowohl die jüdisch-christliche Überlieferung wie die Metaphysik, Jerusalem wie Athen hervorgegangen sind. Die Moderne hat sich einseitig das griechische Denken kritisch angeeignet, das jüdisch-christliche Heilswissen dagegen als ein ihr Fremdes abgestoßen oder – wie bei Hegel – dieses als bloß vorstellendes Denken verstanden und im spekulativen Denken aufgehoben und es sich damit untergeordnet. Gegen diese unaufgeklärte Aufklärung, die ihre eigene Herkunft aus der jüdisch-christlichen Tradition verkennt, wie gegen die absolut gesetzte, sich als vollendet ausgebende Aufklärung, betont Habermas das Unabgeschlossene der Auseinandersetzung und plädiert für eine selbstkritische und lernbereite Vernunft, die das Unabgegoltene der religiösen Menschheitsüberlieferungen anerkennt (Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, 28f.; Jerusalem, Athen und Rom, in: Zeit der Übergänge, 2001, 173-196).

Damit hat Habermas die jüdisch-christliche Überlieferung in einer unerwarteten Weise denkerisch neu ins Gespräch gebracht. Es wäre aber falsch, von einer sich abzeichnenden neuen Synthese von Glauben und Wissen sprechen zu wollen. Das Gegenteil ist richtig. Nach Habermas hat die Neuzeit, nicht zuletzt Kant, die Grenzen zwischen Glauben und Wissen scharf markiert; dieser Riss lässt sich nach ihm nicht mehr kitten. Die neuerliche Debatte steht also unter der Voraussetzung, dass neuzeitliche Vernunft und Glaube sich gegenseitig in ihrer Autonomie anerkennen, was sowohl gegenseitige Korrektur und Kritik wie gegenseitige Lernbereitschaft einschließt.

Die aufgeklärte Aufklärung, für die Habermas plädiert, lässt sich nur aus dem größeren neuzeitlichen philosophie-geschichtlichen Zusammenhang verstehen und in seiner Bedeutung würdigen. Es handelt sich bei diesem Konzept nicht um einen mehr oder weniger zufälligen glücklichen Einfall oder um einen aus der aktuellen Not gebotenen Entwurf. Es handelt sich vielmehr um eine kritische Aneignung eines der bedeutendsten neuzeitlichen religions-philosophischen Entwürfe, der Position Kants und dessen Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1794). Diesen Zusammenhang hat Habermas dies in seinem Beitrag „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“ ausführlich dargelegt (Zwischen Naturalismus und Religion, 2005, 216-257).
Habermas legt hier eine konsequent agnostische und eine – auf den ersten Blick überraschende – republikanische Kantinterpretation vor. Damit nimmt er Kant als Vorläufer für seine Konzeption einer idealen Kommunikationsgemeinschaft in Anspruch; er geht aber auch über ihn hinaus. Hatte Kant die biblische Idee von Gottes Herrschaft auf Erden mit der Idee des höchsten Gutes übersetzt, versucht dies Habermas mit dem nach ihm funktional äquivalenten innerweltlichen Begriff der Republik als einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Auf die Frage, ob diese Interpretation zurecht besteht, möchte ich nicht eingehen sondern sie den Kantspezialisten überlassen.

Mit dieser agnostischen und republikanischen Interpretation des Reiches Gottes möchte sich Habermas nicht der naiven unaufgeklärten Aufklärungen verfallen, welche sich die Religion vernünftig aneignet indem sie diese sich selbst enteignet und damit aufhebt. Er versteht sich als ein aufgeklärter Aufklärer, der weiß: Man kann den Kuchen der Religion nicht gleichzeitig aufzehren und behalten wollen. Habermas will den Kuchen behalten. Er braucht ihn als Sinnressource und als Motivation und Ermutigung gegen den Defätismus. Aber als Agnostiker lässt sie aber auf sich beruhen. Nach seinen schriftlichen Äußerungen steht er als religiös unmusikalisch ihrem – wie er es nennt – opaken Aussagen mit Respekt aber auch in einer gewissen Distanz und Fremdheit gegenüber.

III.

Die Bedeutung dieser Position für eine neue Diskussion über das Verhältnis von Glauben und moderner Vernunft steht außer Frage. Als Theologe wird man dafür dankbar sein allerdings ohne diese Position theologisch vereinnahmen zu wollen. Denn bei aller Anerkennung wirft sie auch Fragen auf. Darauf möchte ich nun in einem zweiten Teil der Überlegungen eingehen um dann eine eigene theologische Position zu entwickeln. Nur zwei Fragen Ich möchte Fragen möchte ich nennen.

Zunächst stellt sich die Frage ob man Kants Religionsphilosophie tatsächlich agnostisch und grundsätzlich nachmetaphysisch interpretieren und verstehen kann. Kant vertritt bekanntermaßen die Meinung, dass sich die theoretische Vernunft, wenn sie den Bereich des Empirischen überschreitet, in Aporien verwickelt so dass sie die Gottesfrage theoretisch nicht beantworten kann. Auch die metaphysische Tradition war sich der Grenzen der natürlichen Gotteserkenntnis bewusst. Schon Aristoteles wusste, dass die Metaphysik letztlich nur stammeln kann (Met 993 a), und nach Thomas von Aquin wissen wir von Gott mehr was er nicht ist als was er ist (S. th. I q.1 a.7 ad 1; a.9 ad 1).

Doch Kant gibt diesem Gedanken eine neue Wende. Nach ihm scheitert zwar die theoretische Vernunft am Gottesgedanken, dennoch ist für ihn die Existenz Gottes ein Postulat der praktischen Vernunft. Ausgehend von der praktischen Vernunft, d.h. von der sittlichen Freiheit will Kant eine Metaphysik der Freiheit grundlegen, wie sie nach ihm vor allem Fichte entworfen hat und wie sie heute philosophisch wie theologisch verschiedentlich aufgegriffen wird. [2]

Kant war sich bewusst, dass die menschliche Vernunft durch Fragen belästigt wird, die ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben sind und die sie nicht abweisen, aber nicht beantworten kann, weil sie alles Vermögen der menschlichen Vernunft übersteigen (Kr.d.r.V. A VIII). Deshalb gilt für ihn: „irgend eine Metaphysik ist immer in der Welt gewesen, und wird auch wohl ferner, mit ihr aber auch eine Dialektik der Vernunft, weil sie ihr natürlich ist, darin anzutreffen sein“ (ebd. B XXXI). So schreibt er nicht von ungefähr und nicht aus Gedankenlosigkeit eine „Metaphysik der Sitten“ (1785/86), das heißt eine Metaphysik, die vom sittlichen Freiheitshandeln ausgeht.

Aus diesem Grund fällt es schwer, so apodiktisch wie Habermas das tut, von einer durch Kant unwiderruflich angebrochenen nachmetaphysischen Epoche zu sprechen. [3] Kant wollte die Metaphysik nicht beenden sondern sie im Gegenteil neu begründen. Auf diesem Weg ist die Philosophie nach ihm sowohl im Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels wie im dialektischen Materialismus von Karl Marx, weiter gegangen. Ob sie dabei den Begriff Metaphysik gebraucht hat oder auch nicht, tut wenig zur Sache. [4] Grundsätzlich kann man Metaphysik nur durch Metaphysik überwinden. Auch der Empirismus oder der Materialismus sind, wenn sie sich als Gesamterklärungen der Wirklichkeit verstehen, eine Metaphysik, wenngleich eine schlechte Metaphysik. Th. W. Adorno hat die Dialektik, die sich im Scheitern der Vernunft auftut, ausgehalten, wenn er als letzten Satz seiner nativen Dialektik schreibt:„Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ (1966, 398).
Die metaphysische Frage und damit die Gottesfrage lassen sich nicht ausklammern; man kann sie nicht auf sich beruhen lassen. Sie stellt sich unabweisbar nicht nur in der antiken Philosophie sondern auch im neuzeitlichen von der Subjektivität bzw. von der Freiheit ausgehendem Denken. Sie ist, biblisch gesprochen, dem Menschen ins Herz geschrieben (vgl. Röm 2,14 f). Der Mensch lässt sich nicht verstehen ohne zumindest die Frage und die Suche nach Gott.

Die zweite Frage betrifft die Möglichkeitsbedingungen und die Grenzen des repub-likanischen Freiheitsideals, d.h. auf die für Habermas grundlegende „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981). Habermas ist sich bewusst, dass dieses Ideal angesichts der Faktizität der Wirklichkeit nur unter glücklichen Umständen gelingen kann, ja dass es sich im Grunde um eine performativ vorausgesetzte kontrafaktische Annahme handelt, um das Postulat und um die Antizipation einer idealen voll-kommenen Kommunikationsgemeinschaft.

Es wurde schon oft angemerkt, dass der ontologische Status dieses Postulats und dieser Antizipation unklar ist. Kant ist auch hier wesentlich deutlicher. Er hat dargelegt, dass die Verwirklichung eines Reiches der Freiheit innerhalb der von Naturgesetzen regierten Welt nur unter Voraussetzung des Gedankens Gottes möglich ist. Denn allein Gott als unendliche Freiheit und als Herr der Natur kann die Natur zu einem möglicher Raum der Freiheit machen und sie in Übereinstimmung mit der selbstbestimmten Freiheit des Menschen bringen (Kr.d.p.V. A 223 ff). Ohne den Gottesgedanken bliebe die menschliche Freiheit und eine Ordnung der Freiheit angesichts der Faktizität der Welt chancen- und hoffnungslos – eine Feststellung, welche man sich besonders im gegenwärtigen, im Vergleich zu anderen Kontinenten sehr stark säkularisierten Europa gut merken sollte.

Im Anschluss und in Weiterführung von Kant kann man also sagen: Anders als der atheistische Humanismus meint erweist sich die unendliche Freiheit Gottes nicht als Grenze und Infragestellung der menschlichen Freiheit sondern als deren Möglichkeitsbedingung. In ähnlichem Sinn sagte Max Horkheimer: „Einen unbedingten Sinn ohne Gott zu retten, ist eitel“ (Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, 69). Habermas hat sich mit diesem Satz ausführlich auseinandergesetzt; am Ende lässt er dabei nur den Begriff der unbedingten Wahrheit als Postulat übrig (Zeit der Übergänge, 190). Aber kann ein als Postulat vorausgesetzter nur gedachter Gott in einer von Naturgesetzen bestimmten Welt helfen und retten?

Die Auseinandersetzung mit der „Theorie des kommunikativen Handelns“ kann noch einen Schritt weitergehen. Sie muss fragen, ob menschliche Freiheit in inter-subjektiver Handlungs- und Kommunikationsfreiheit aufgeht. Die alten Philosophen hätten dem nachdrücklich widersprochen. Nach Aristoteles gründet die Metaphysik im Staunen und Sich wundern über die Unbegreiflichkeiten des Alltags; nach ihm regen die Unbegreiflichkeiten zum Nachdenken an und führen zu immer größeren Fragen. Metaphysik ist darum für ihn erste Philosophie, d.h. Streben nach Weisheit und Liebe zur Weisheit, nicht aber Besitz der Weisheit. Sie ist für Aristoteles wie für Thomas Weisheit, die nicht um eines anderen willen sondern um ihrer selbst willen gesucht wird. Die Metaphysik ist darum die eigentlich freie Wissenschaft (Met 981 b; 982 a und b; In Met 1 lc.1; lc. 3 u.a.).

Das ist ein wichtiger und entscheidender Gedanke. Freiheit geht nicht im Pragma, d.h. nicht im Tun auf; sie vollendet sich in der Theoria, die der Welt, den Dingen und den Menschen zweckfrei begegnet, ihnen Raum gibt, sie ankommen und gleichsam sprechen lässt und die so die Wahrheit der Wirklichkeit erkennen will. Nach Aristoteles ist in der Schau mehr Weisheit als im Handeln (Met 981 b). Die Theoria, ist nach der philosophischen Tradition die Erfüllung und das Glück des Menschen. Denn die Theoria, die nicht um eines anderen Zweckes ist sondern sich selbst Zweck ist, entspricht dem Menschen, dessen Würde es ist, dass er nie nur als Zweck für etwas oder für jemand behandelt werden darf, dass er vielmehr Zweck an sich selbst ist. Die Metaphysik als freie um ihrer selbst willen bestehende Wissenschaft ist also Freiheitsphilosophie und Ausdruck der höchsten Würde des Menschen. Sie ist es, die der naturalistischen Verzweckung und Verdinglichung des Menschen, von der eingangs die Rede war, widersteht.

Die Rehabilitation der praktischen Philosophie, um die es Habermas zu Recht geht, erfordert auch eine Rehabilitation der theoretischen Philosophie als Weisheitslehre. Sie könnte ein wichtiger Beitrag sein zur Neubesinnung auf grundlegende humane Verhaltensweisen, die uns weithin abhanden gekommen sind, wie Stille, Staunen, Schauen, Sich wundern – alles Haltungen, welche das scheinbar so Selbsver-ständliche wie die Verblendungen durch Vorurteile und Ideologien aufbrechen und den Blick freigeben für das Geheimnis des Lebens und der Wirklichkeit.

IV.

Nimmt man die beiden kritischen Anmerkungen zusammen, so stellt sich das Thema „Glaube und Vernunft“ nochmals ganz neu. Das Thema dreht sich sozusagen um. Die Religion bzw. der Glaube sind jetzt nicht mehr nur Motivations- und Inspirationsquelle für die Praxis sondern sind auch und sogar zuerst eine eigene und eigenständige Quelle der Weisheit. Glaube und Vernunft sind damit nicht zwei Größen, die erst nachträglich miteinander in Beziehung gesetzt werden, sei es dass die Theologie die Philosophie als Magd oder die praktische Philosophie die Theologie als Motivationsspender benützt. Es gilt vielmehr, die dem Glauben selbst immanente Vernunft bzw. die dem Glauben selbst immanente Weisheit zu entfalten und damit das Thema „Glaube und Vernunft“ als ein dem Glauben selbst eigenes und aus dem Glauben selbst sich ergebendes Thema zu behandeln. Genau das war das Anliegen des klassischen Axioms fides quaerens intellectum; es ist der Glaube selbst, der nach seinem Verstehen fragt.

In der gegenwärtigen Theologie gibt es dazu unterschiedliche Ansätze. Vor allem ist das monumentale Spätwerk von Hans Urs von Balthasar zu nennen. Auch Josef Ratzinger/Benedikt XVI. geht in diese Richtung. Doch während er von der bleibend normativen Kongenialität von biblischer Botschaft und hellenistischer Philosophie ausgeht, sieht Johann B. Metz das Christentum durch einen solchen Versuch von seiner jüdischen Wurzel abgeschnitten. Das führt nach ihm zu einer Halbierung des Geistes des Christentums; deshalb versucht er das eigene Geistangebot von Bibel und Judentum zur Geltung zu bringen und die Selbstauslegung der biblischen Botschaft mit Hilfe der jüdischen anamnetischen Vernunft zu bewerkstelligen. [5]

Zunächst wird man Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. insoweit recht geben müssen, als die Begegnung zwischen biblischer Botschaft und griechischem Denken nicht erst ein nachbiblisches sondern bereits ein innerbiblisches Phänomen ist. Die Bibel ist nicht erst in den Weisheitsschriften. Sondern bereits von der ersten Seite an Weisheitslehre. Schon das Buch Genesis nimmt in der Schöpfungsgeschichte altorientalische Weisheitslehre auf, der ägyptische Joseph, Mose und sein Nachfolger Josua werden als Weise bezeichnet, der Messias wird als mit dem Geist der Weisheit begabt erwartet. [6] Das Neue Testament kennt eine Weisheits-Christologie und eine Weisheits-Ekklesiologie. [7] Was biblisch Weisheit heißt, kann schon im Johannes-evangelium auch Logos heißen. Damit war die Brücke geschlagen zu den altkirch-lichen christologischen und trinitarischen Glaubensbekenntnissen, die bis heute für alle Kirchen maßgebend sind. Eine grundsätzliche Enthellenisierung würde das Christentum seiner Grundlagen und seiner innersten Substanz berauben und es in seiner geschichtlich gewordenen Gestalt letztlich aufheben. [8]

Auch später ist das Gespräch zwischen Jerusalem und Athen weitergegangen. Das geschah in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie auf recht unterschiedliche Weise bei Thomas von Aquin, Bonaventura und in der Pariser Artistenfakultät. Auch die neuzeitliche Philosophie und Theologie kann keineswegs unter der General-überschrift „Enthellenisierung“ eingeordnet werden. Hellenistisches Denken blieb für die Renaissance, für Schelling wie für Hegel und ihre Schulen grundlegend. [9] Auch jüdisches Denken immer mit präsent; man denke in der Antike an Philon von Alexandrien, im Mittelalter an Maimonides, in der Neuzeit an Spinoza, heute an Martin Buber, Franz Rosenzweig, Walter Bejamin, Ernst Bloch, Marx Horkheimer, Theodor W. Adorno, Emmanuel Levinas und viele andere und an deren nicht geringen Einfluss auf die gegenwärtige Theologie.

Es stehen sich also nicht petrifizierte, in sich geschlossene Denkwelten: hie jüdisch-biblisches und dort hellenistisches Denken gegenüber; auch die Gegenüberstellung von hellenistisch-christlicher Synthese am Anfang und neuzeitlicher Auflösung und Verfall stellt eine Vereinfachung dar. Die Neuzeit ist ein vielschichtiger, dialektisch verlaufender, unvollendeter Prozess, in dem das Gespräch zwischen Jerusalem und Athen, von biblischem und hellenistischem Denken, das die gesamte Tradition durchzieht weiterging. Se ist ein unvollendetes Projekt, das es kritisch-konstruktiv weiterzuführen gilt und in das sich die Theologie selbstbewusst kritisch-konstruktiv einbringen kann und soll. Positionen wie die von Jürgen Habermas eröffnen diesen Dialog aufs Neue, führen ihn aber auch über sich hinaus.

V.

Die Theologie braucht darum keine Anleihen bei der Philosophie machen sondern kann die der Offenbarung selbst innewohnende Weisheit auslegen, von ihr her die Welt auslegen und auf diese Weise die Stimmigkeit, Überzeugungskraft und – sagen wir es ruhig – die innere Schönheit des Glaubens darlegen.

Eine solche Selbstauslegung ist uns bereits begegnet bei der Auslegung der Gottebenbildlichkeit des Menschen im Sinn der unbedingten Würde des Menschen. Das ist nichts das einzige Beispiel. Ausgehend von der Freiheit Gottes, der sich in der Liebe der Welt mitteilt, kann man die Welt als Ort der Freiheit und der Kommunikation deuten. Versteht man Gottes Freiheit in sich selbst mitteilender Liebe als umfassenden Deutungshorizont, dann ergibt sich daraus dass anders als im aristotelischen Denken nicht die Substanz sondern die Relation die grundlegende Wirklichkeit ist. Es ergibt sich also ein relationales Wirklichkeitsverständnis. Das zeigt sich vollends, wenn man, wie es in der gegenwärtigen Theologie oft geschieht, die Wirklichkeit im Licht der Trinitätslehre deutet und sie zum Paradigma einer christlichen Weltauslegung nacht und zeigt, dass Liebe der Sinn von Sein ist. [10] In diesem Licht lässt sich auch das Kreuz, das weltliche Vernunft als der Skandal christlichen Glaubens gilt, als Offenbarung der bis in die äußerste menschlicher Erniedrigung eingehenden Liebe Gottes und – wie Paulus sagt – als Gottes Kraft und Weisheit (1 Kor 1,24) Im Glauben verstehbar machen. [11]

Schließlich erschließt sich auf diese Weise ein so sperriges Dogma oder – in der Sprache von Habermas – eine so opake Aussage wie die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten. Soll nämlich die Forderung nach unbedingter Gerechtigkeit, die innerweltlich nicht aufgeht, nicht scheitern, soll also gelten, dass der Mörder nicht über sein unschuldiges Opfer triumphieren darf, dann ist solches Vertrauen das nur im Vertrauen auf eine andere nichtweltliche Instanz und in der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten möglich, wie es W. Benjamin, M. Horkheimer und E. Bloch gezeigt haben und wie es J. B. Metz eindrücklich aufgegriffen hat.

Hier macht nicht die Philosophie das Angebot einer rettenden Übersetzung an die Theologie; vielmehr macht die Theologie ihr eigenständiges Angebot einer rettenden Deutung des Menschen und der Welt. Um es nochmals mit Th. W. Adorno zu sagen: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellen. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik“ (Minima Moralia, 1964, 333).

VI.

Alle diese Auslegungen sind Auslegungen des Glaubens; sie sind ein Angebot, das man niemand aufreden und noch weniger irgendjemand aufzwingen kann und darf. Man kann diese Deutungen als ein vernünftiges Angebot erweisen, das sich an in und an Welt und ihren Fragen bewährt, aber man kann sie niemand „anbeweisen“; in der Welt und im Leben gibt es auch viele Gegenargumente sind. Die Existenz eines allmächtigen und gütigen Gottes ist angesichts des Ausmaßes von unschuldigem Leiden und von horrender Ungerechtigkeit in der Welt keine vor Augen liegende leicht einsichtig zu machende Wahrheit. Das unschuldige Leiden ist der Fels des Atheismus (G. Büchner). So ist der Glaube kein alles erklären wollendes System sondern ein Wissen auf Hoffnung hin, ein die Vollendung vorwegnehmendes und sie antizipierendes Wissen. „Spe salvi“, „auf Hoffnung hin sind wir erlöst“ sagt Paulus (Röm 8, 24), und so lautet der erste Satz und damit der Titel der zweiten Enzyklika von Papst Benedikt XVI. (2007).

Nach biblischem Verständnis ist die Wahrheit Gottes Treuewahrheit (emeth); sie erweist sich geschichtlich, aber sie wird erst am Ende der Zeit eschatologisch voll bewahrheitet. In dieser Welt sind wir Pilger, die nach Gottes Angesicht suchen (Ps 27,8; 42,3). Wir leben noch nicht in der Schau; wir erkennen Gott nur in rätselhaften Umrissen; erst in der Ewigkeit schauen wir ihn von Angesicht zu Angesicht (1 Kor 13,12); so „wie er ist“ (1 Joh 3,2). Theologisches Wissen ist darum keine triumpha-listische Ideologie der beati possidentes sondern Pilger- und Hoffnungswissen (S. th. I/II q.1 a. 6). Der Philosophie ist ein solcher Gedanke nicht fremd. Bei Th. W. Adorno lesen wir: „Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kardiale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt war“ (Minima Moralia, 1964, 123 f).

Hoffnung, die man sieht – sagt Paulus – ist keine Hoffnung (Röm 8, 24). Hoffnung kann man nicht beweisen; Hoffnung ist ein Risiko. Blaise Pascal, der große Gegenspieler von Descartes, hat dies verstanden, wenn er an einer bekannten Stelle seiner Pensées vom Glauben als einer Wette spricht (Fragment 233). Der Glaube ist sozusagen ein Risiko, bei dem man sich selbst mit aufs Spiel setzt. In ähnlicher Weise hat Kierkegaard gezeigt, dass man sich aus der Existenz nicht herausspekulieren kann; man kann sich denkend nicht gleichsam neben sich stellen. Im Glauben denkt man letztlich mit der eigenen Existenz.

John Henry Newman hat diesen Gedanken in seiner Erkenntnis- und Glaubenslehre näher ausgeführt. Nach ihm leistet die Argumentation nur eine Konvergenz d.h. eine Bündelung von Wahrscheinlichkeiten, die erst im Licht des Folgerungssinns (illative sense) des Gewissens überzeugend werden. [12] Die scholastische Theologie spricht in diesem Zusammenhang vom Licht des Glaubens, das den Gegenstand des Glaubens erst einsichtig macht. Wir können es auch einfacher sagen: „Nur mit dem Herzen sieht man gut“ (Saint-Exsupéry).

So ist der Glaube zwar kein unvernünftiges tollkühnes, Risiko; er ist ein verant-wortetes Risiko und eine verantwortliches Wette. Der Glaubende kann Rechenschaft (apologia) geben von der Hoffnung, die in ihm ist (1 Petr 3,15); er kann den inneren Logos und die innere Logik des Glaubens aufzeigen. Aber der Glaube gibt auf die Fragen des Lebens und des Sinns des Lebens und der Welt keine objektiv zwingenden, beweisbaren und insofern allgemein einsichtigen Antworten. Man muß sich selber riskieren.

Auch dem vom Agnostiker und Atheisten geht es nicht anders. Auch er hat keine objektiv beweisbaren Antworten; letztlich glaubt auch er. Mit Carlo M. Martini und Umberto Eco kann man fragen „Woran glaubt, wer nicht glaubt?“ (München 1999). So laufen beide, der Gläubige und der Nichtgläubige ein Risiko; beide gehen mit Pascal zu sprechen eine Wette ein. Der Streit des Glaubens mit dem Unglauben kann darum geschichtlich nicht ein für alle Mal entschieden und beendet werden. Aber der Glaubende kann den Nichtglaubenden fragen: Wo ist und wer hat ein besseres und ein vernünftigeres Angebot? Wohin sollen wir sonst gehen? Wo sind sonst solche Worte des Lebens? (vgl. Joh 6,68).

So kämpft die Theologie gegen den Kleinmut, die vorweggenommene Verzweiflung, gegen den Defätismus und die Resignation, die den Mut zu den großen Dingen (magnanimitas) verloren und die die Frage nach Gott als dem letzten Grund und Ziel aufgegeben haben um sich mit den kleinen, oft auch den banalen Freuden des Alltags zufrieden zu geben. Sie kämpft gegen die acedia, die bequem, träg, spießig, skeptisch, kleingläubig und kleinmütig ist, die ihre Endlichkeit und Schwäche verabsolutiert und entschuldigend vor sich herträgt. Sie kämpft aber ebenso gegen den Hochmut, die vorweggenommene Erfüllung und Vollendung, den Stolz, die Selbstherrlichkeit (hypbis; superbia), die prometheische Gigantomachie, den Allmachtswahn, die Arroganz und Selbstgewissheit von Ideologien, seien es Ideologien, welche aus dem Glauben eine alles wissen könnende Gnosis machen und die dann oft genug gewalttätig gegen andere werden, oder seien es Ideologien, welche die Welt und den Menschen definitiv ohne Gott erklären und das Leben ohne Gott „etsi Deus non daretur“ meistern, gestalten und leben zu können meinen.

Dem Hochmut setzt der Glaube die Demut entgegen. Sie nimmt im Sinn Pascal’s Größe und Elend des Menschen ernst; die Größe gegen den Kleinmut, das Elend gegen den Hochmut. Hoffnungswissen steht so zwischen Kleinmut und Hochmut; es ist Demut und Großmut in einem; es weiß um das eigene Elend und wagt doch das Große. Es wagt zu leben „etsi Deus daretur“. [13]

Eine solche Haltung ist in einer Situation wie der unsrigen, in welcher weltliche ideologische Zukunftsverheißungen enttäuscht und getrogen haben, die utopischen Energien weitgehend erschöpft sind und Hoffnung Mangelware geworden ist, lebens- ja überlebenswichtig; denn ohne Hoffnung kann niemand leben, kein einzelner und auch kein Volk. [14] Dieses Licht der Hoffnung will die Philosophie hochhalten, wenn sie mit Adorno und Habermas die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung dartut; dieses Licht der Hoffnung will wesentlich konkreter der Glaube anstecken. So kann die Theologie mit dem Thema Glaube und Vernunft Mut zum Glauben wie zum Denken machen. Darin besteht die Aktualität wie die Dringlichkeit unseres Themas.

  1. Zu diesem Axiom und zur Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft: W. Kasper, Der Gott Jesu Christi (WKGS 4), Freiburg i. Br. 2008, 16-22.
  2. Ich erwähne hier nur meinen Lehrer in Philosophie Josef Möller, Metaphysik. Denkvollzug der Freiheit, Würzburg 1997, wie meinen Schüler Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, 2. Aufl. München 1988.
  3. J. Habermas hat sich mit der Frage einer Metaphysik nach Kant an Hand der bedeutenden Entwürfen von D. Henrich und R. Spaemann auseinandergesetzt, in: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1988.
  4. L. Oeing Hanhoff, Art. Metaphysik, in: HWPh 5 (1980) 1272-80.
  5. J. B. Metz, Anamnetische Vernunft. Anmerkungen eines Theologen zur Krise der Geisteswissen-schaften, in: A. Honneth (Hg.), Zwischenbetrachtungen, Frankfurt a.M. 1989, 733 f.
  6. F. Sedlmeier, Wortoffenbarung und Weisheitssuche. Erbe und Aktualität des Alten Testaments, in: PATH 2008/1, 25-52.
  7. Vgl. W. Kasper, Die Kirche Jesu Christi (WKGS 11), Freiburg i. Br. 2008, 49-53.
  8. Vgl. meine Tübinger Abschiedsvorlesung: Zustimmung zum Denken. Unerlässlichkeit der Meta-physik für die Sache der Theologie, in: ThQ 169 (1989) 257-271. Zu Auseinandersetzung mit einigen neueren protestantischen Strömungen: Glaube und Vernunft. Zur protestantischen Diskussion um die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI., in: StdZ 132 (2007) 219-228.
  9. W. Beierwaltes, Griechische Metaphysik und christliche Theologie, in: Glaube und Vernunft, 33-44; vgl. auch J. Werbick, Griechischer Geist und biblischer Glaube, in ebd. 86-106.
  10. Vgl. W. Kasper, Der Gott Jesu Christi, 37 f.
  11. Vgl. W. Kasper, Das Kreuz als Offenbarung der Liebe Gottes, in: Catholica 61 (2007) 1-14.
  12. J. H. Newman, Grammar of Assent, 1870 (dt. Entwurf einer Zustimmungslehre, Mainz 1961).
  13. Nach wie vor empfehlenswert J. Pieper, Über die Hoffnung (1935), Einsiedeln-Freiburg 2006.
  14. Vgl. W. Kasper, Zusage von Heil. Religion und die Zukunft des Menschen, in: IkaZ Communio 36 (2007) 300-315.