Schlusswort zur Feier „10 Jahre Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“

Kardinal Walter Kasper

Gemäß Programm sollen die beiden Veranstalter des Symposiums ein Schlusswort sprechen. Das finde ich ausgesprochen schwierig. Denn dieses ein Symposium sollte ja im Rückblick zugleich ein neuer Start und ein neuer Aufbruch sein. Es sollte dem Gespräch und der Zusammenarbeit zwischen Lutheranern und Katholiken neuen Schwung geben. Ich hoffe, dass dies im Rahmen des Möglichen gelungen ist. Deshalb zuerst ein Wort des Dankes an alle, die dieses Symposium vorbereitet und die zu seinem Gelingen beigetragen haben. Gerne würde ich viele Namen nennen. Aber es sind zu viele, die genannt zu werden verdienten. So danke ich stellvertretend der Stadt Augsburg, den beiden Ortskirchen und vor allem den drei Referenten, welche die Hauptlast getragen haben.

Neuanfang bedeutet nicht, dass wir am Nullpunkt anfangen; wir brauchen die Ökumene nicht neu erfinden. Die katholischen Prinzipien des Ökumenismus sind im Ökumenismusdekret des Konzil klar festgelegt. Ökumene baut auf auf dem Konsens, der trotz allen leidvollen Trennungen zwischen unseren Kirchen bestehen blieb: das Bekenntnis zu dem einen Herrn Jesus Christus als dem einen Heiland und dem einen Mittler zischen Gott und uns Menschen so wie er in der Hl. Schrift und im gemeinsamen Apostolischen Glaubensbekenntnis bezeugt wird. Auch wenn viele Brücken zwischen uns abgerissen wurden, dieser zentrale Pfeiler blieb stehen. Ihn haben wir in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre wieder ausgebaut, auf ihm können wir weiterbauen. Gemeinsam bekennen wir, dass uns allein im Glauben an Jesus Christus, sein Kreuz und seine Auferstehung durch Gott den Vater im Hl. Geist Heil und Erlösung zuteil wird, so dass wir vor Gott bestehen und einander als Brüder und Schwestern annehmen können.
Dieses Symposium hat nochmals klargemacht: Das ist kein alter Hut und keine theologische Spitzfindigkeit. Das ist die christliche Antwort auf die Frage nach dem letzten Sinn, dem Glück und nach dem Woher und Wohin des Lebens; das ist auch kein starrer Standpunkt sondern die Eröffnung eines Wegs durchs Leben, den man mit der Schrift als Weg der Heiligung bezeichnet, d.h. als Leben vor Gott, aus Gott und für Gott, das sich in allen Situationen in Gott geborgen weiß.

Dieser Glaube ist ein Geschenk zum Weitergeben an eine in den Grundfragen der Existenz unsicher und weithin orientierungslos gewordene Welt. Der Glaube ist keine Privatsache; er bedeutet Hoffnung stiftende Sendung in die Welt nicht nur durch das Zeugnis des Wortes sondern ebenso durch das Zeugnis der sozialen Tat. Rechtfertigung und Einsatz für Gerechtigkeit – und dies weltweit und global – gehören zusammen. Wenn wir im Tiefsten eins sind, dann können und sollten wir dafür noch viel mehr gemeinsam tun als wir gemeinhin schon tun. Der bevorstehende zweite ökumenische Kirchentag wird uns – so hoffe ich – für dieses Zeugnis in der Welt von heute neu Orientierung geben.

Lassen Sie mich noch ein zweites sagen. Dieses Symposium hat uns erneut die grundlegende Bedeutung der Bibelarbeit gezeigt. Die Schriftauslegung hat in den letzten 10 Jahren wesentlich dazu beigetragen, die uns Heutigen auf den ersten Blick spröde erscheinende Rechtfertigungsbotschaft besser zu erschließen. Sie hat gezeigt, dass es dabei nicht um irgend etwas geht sondern letztlich um die Botschaft von Gott als Freund des Lebens und als Gott der Menschen, ja als in Jesus Christus Mensch gewordener Gott, als Gott mit einem menschlichen und menschenfreundlichen Antlitz. Nicht die Kirchen-, die Gottesfrage ist das zentrale Thema der Rechtfertigungsbotschaft, und sie ist das zentrale Thema heute.

Wir sind daher den Fachleuten der Bibelauslegung zu großem Dank dafür verpflichtet, Aber die Bibel gehört nicht nur ihnen; sie ist das Buch des Volkes Gottes. Daher müsste die gemeinsame Bibelarbeit wieder mehr im Zentrum unserer ökumenischen Bemühungen stehen. Über der Bibel haben wir uns getrennt, über der Bibel müssen wir uns wieder einigen. Es ist darum kein Empfehlung sondern ein Trauerspiel, dass in Deutschland das, was sonst überall in der Welt möglich und auch wirklich ist, nämlich eine gemeinsame Bibelübersetzung nicht gelingen wollte.

Gemeinsame Bibelarbeit geschieht nicht dadurch, dass wir die Schrift als Steinbruch für Schriftbeweise benützen, die wir uns dann wechselseitig um die Ohren schlagen, sondern indem wir sie als Buch des Lebens, als Nahrung und als Orientierung für das Leben verstehen. Dabei haben wir alle von einander zu lernen und uns gegenseitig zu bereichern. Ökumenischer Dialog heißt ja nicht, dass wir uns auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner treffen sondern meint einen Austausch nicht nur von Ideen sondern von Gaben, an denen jede Kirche auf je ihre Weise reich ist. In diesem Sinn arbeiten und beten wir für eine Einheit in der Vielfalt. Das heißt auch: Wir müssen Kirche sein, die die man nicht je nach Geschmack und je nach Bedürfnis machen, organisieren und reformieren kann, die vielmehr Kirche unter dem Wort Gottes ist.

Damit komme ich zum dritten Thema, zum Thema Kirche. Luther hat gemeint, was Kirche ist, wisse jedes Kind von sieben Jahren. Das könnte er heute wohl kaum mehr sagen. Leider! Heute passt eher das andere Wort Luthers vom blinden, undeutlichen Wort Kirche. Kirche schmeckt heute vielen nicht mehr. In der Tat, auch nach meinem Geschmack sind die Kirchen heute viel zu sehr mit sich selbst, mit ihren Strukturen und Strukturreformen beschäftigt. Diese sind weiß Gott nötig. Aber nicht sie machen die Kirche attraktiv und glaubwürdig. Die Kirchen werden dadurch eher nicht mehr deutlich als Zeichen und Zeugen der frei und glücklich machenden Botschaft vom rechtfertigenden Gott und gerechtfertigten Menschen wahrgenommen. Die Gemeinsame Erklärung müsste ein Ruf zur Sache, die Sache Gottes mit dem Menschen sein.

Nicht wenige haben kritisiert, dass die Gemeinsame Erklärung keine Konsequenzen aus der Rechtfertigungslehre für die Lehre und für die Praxis der Kirche gezogen hat. Die Erklärung ist sich dieses Desiderats bewusst und hat es an die Kirchen weitergegeben. Die Kirchen haben sich die Gemeinsame Erklärung zu eigen gemacht haben. Es waren einzelne Theologen und Journalisten, aber keine Kirche, auch die katholische Kirche nicht, hat sich nachträglich davon distanziert. Wenn man die zwischen den Kirchen in den letzten 10 Jahren geführten Dialoge betrachtet, dann ist es nicht wahr, dass da in Sachen Kirche nichts geschehen wäre. Das letzte gemeinsame lutherisch-katholische Dokument über die Apostolizität der Kirche – um nur ein Beispiel zu nennen – baut auf der Gemeinsamen Erklärung auf und hat dabei nennenswerte Fortschritte erzielt.

Es führt freilich kein Weg an der ehrlichen Feststellung vorbei: Der große Durchbruch ist uns an dieser Stelle bisher leider nicht geschenkt worden. Darum ist eine allgemeine Einladung zur Eucharistie- bzw. Abendmahlsgemeinschaft nicht möglich geworden. Viele sind deswegen ungeduldig und enttäuscht. Ich kann das verstehen. Doch wenn es um Wahrheitsüberzeugungen geht, helfen Protest und Polemik nicht weiter. Letztlich steht die Frage im Raum, was wir meinen, wenn wir Kirche sagen und was wir meinen, wenn wir die Einheit der Kirche, die eine Einheit in der Vielfalt ist, wollen. Das ist keine Nebenfrage. Wir sollten uns den unter-schiedlichen ökumenischen Zielvorstellungen in den nächsten Jahren intensiv stellen. Das geht nicht indem wir uns so zu profilieren versuchen, dass wir den anderen als ökumenischen Sündenbock und uns selbst als ökumenische Weltmeister hinstellen. Nur die Ehrlichkeit, die eigenen Versäumnisse und Schwachstellen anzuerkennen und die Bereitschaft zur Selbstkorrektur schafft neues Vertrauen.

Zu den traditionellen Fragen kommen heute – leider, muss man sagen – neue Fragen, deren Antwort uns im 16. Jahrhundert und in den folgenden Jahrhunderten noch gemeinsam waren, ethische Fragen das heißt Fragen der Lebensgestaltung aus der Rechtfertigungsbotschaft. Vor 20 Jahren konnten wir 1989 die gemeinsame Orientierung „Gott ist ein Freund des Lebens“ veröffentlichen. Ich fürchte, das wäre heute so nicht mehr möglich. Es gehört zu der sich rasch wandelnden ökumenischen Landschaft, dass es leider auch neue Unterschiede gibt sowie Tendenzen, die uns von einander entfernen und zu neuen Fragmentierungen führen.

Die Rechtfertigungsbotschaft ist keine abstrakte Theorie; sie muss ins Leben eingreifen. Deshalb ist es heute mehr als je eine dringende Aufgabe ihre ethischen Konsequenzen zu bedenken. Sie ist ihrem Wesen nach eine kritisch-befreiende Botschaft. Die Kirchen würden sich selbst aufgeben und damit die Ökumene überflüssig machen, wenn sie nicht mehr den Mut hätten, in Treue zum Wort Gottes, wenn es sein muss, unbequeme aber frei machende Alternativen zu formulieren zu dem, was „man“ heute gewöhnlich für richtig hält. Im Licht der Rechtfertigungsbotschaft darf political correctness nicht Maßstab kirchlichen Redens und Handelns sein.

Zum Schluss möchte ich noch ein Wort zu dem sagen, was mir in der Ökumene vor allem anderen am Herzen liegt: Die geistliche Ökumene. Sie ist das Herz der Ökumene. Gemeint ist die Ökumene des Gebets und der Umkehr. Ohne Gebet und Umkehr gibt es keine Ökumene. Mit Gebet und Umkehr aber ist vieles, ja nach Jesu Wort alles möglich.

Der Vater der geistlichen Ökumene, der Lyoner Abbé Paul Couturier hat von einem unsichtbaren Kloster gesprochen. Er meinte damit weltweit verstreute aber gemeinsam und für einander betende Christen. Ich habe den Eindruck, dieses unsichtbare Kloster wächst und gedeiht gegenwärtig kräftig; es wird auch immer mehr sichtbar in vielen kleinen und größeren Gruppierungen, Gemeinschaften und Bewegungen, die zusammen oder einzelnen beten, sich das Gebet versprechen, gemeinsam die Bibel lesen, sich geistlich austauschen und untereinander korrespondieren. Sie sind die wahre ökumenische Basis, und die ist am Wachsen. Da wächst zusammen, was zusammen gehört.

Wir dürfen dankbar sein; wir haben viel erreicht, und es geschieht mehr als viele meinen. Nüchtern fügen wir aber hinzu: Vieles bleibt auch noch zu tun. Wir werden auf dem weiteren Weg Geduld aber ebenso auch Ungeduld brauchen. Beides gehört zum Reich Gottes. Es gibt nicht nur in diesem Land unzählige Menschen, die sehnsüchtig und ungeduldig auf die eine Kirche am einen Tisch des Herrn warten, die dafür beten und die sich dafür einsetzen, dass alle eins sind. Ich hoffe, dieses Symposium hat sie nicht enttäuscht, und es hat uns bestärkt, mit geduldiger Ungeduld aber auch mit fröhlichem und frohgemuten Herzens Herzen zu arbeiten und zu beten damit die volle Einheit, so wie Jesus Christus sie will, Wirklichkeit wird. Ihnen allen danke ich für Ihre Teilnahme.