Trauerstaatsakt im Deutschen Bundestag zu Ehren von Bundestagspräsident Dr. Philipp Jenninger am 18. Januar 2018

Herr Bundespräsident, Herr Bundestagspräsident, meine Herren Präsidenten, Frau Bundesskanzlerin! Meine Damen und Herrn! Verehrte, liebe Frau Jenninger!

Der Tod von Philipp Jenninger hat viele Menschen berührt. In erster Linie möchte ich Ihnen, verehrte Frau Jenninger, und Ihrer Familie mein tief empfundenes Mitgefühl aussprechen.

Der Tod von Philipp Jenninger hat auch viele berührt, die ihn als einen Politiker mit Herzblut und mit Herz kannten. Auch mich hat dieser Tod betroffen gemacht. Wir gehören, fast aufs Jahr genau derselben Generation an, einer Generation, die während des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen ist, die alt genug ist um noch Erinnerungen zu haben an Krieg, Bombennächte, Vertreibung, Verlust nächster Angehöriger. Zwei ältere Brüder von Philipp Jenninger sind im Krieg geblieben. Wir waren zugleich jung genug um nicht zum Dienst mit der Waffe herangezogen zu werden oder in die Verbrechen des damaligen Regimes persönlich einbezogen zu sein.

Philipp Jenninger, am 10. Juni 1932 geboren, ist aufgewachsen in einer Familie, die fest im christlichem Glauben verwurzelt ist. Das bedeutete für ihn nicht Enge sondern sein zu Hause, Kompass und Orientierung im Leben. Er ist groß geworden im ostwürttem-bergischen Ellwanger Raum, einer Stadt europäischer Geschichte, die bis auf Karl d.Gr. zurückgeht, die im Dreißigjährigen Krieg, an dessen Ende wir uns dieses Jahr erinnern, schwer gelitten hat. Diese europäische und deutsche Geschichte hat ihn schon früh geprägt.

Nach dem Krieg haben wir uns als Gymnasiasten in der damaligen bündischen kirchlichen Jugendbewegung kennen gelernt. Sie ist nach dem Zusammenbruch der alten bürgerlichen Ordnung Europas im ersten Weltkrieg zwischen den beiden Weltkriegen entstanden als Aufbruch zu einem neuen natürlichen, naturverbundenen Lebensstil. Im Dritten Reich verboten, ist sie nach 1945 zu neuem Leben erstanden. Dort haben wir Gemeinschaft erfahren, und früh gelernt Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen.

Viele Männer und Frauen, welche den geistigen und moralischen Neuanfang nach 1945 gestaltet haben, gingen aus dieser und aus ökumenisch verwandten Bewegungen hervor. Philipp Jenninger war der letzte Überlebende des Ellwanger Kreis, in dem sich damals führende, heute den meisten kaum mehr dem Namen nach bekannte Politiker, über die Grundlagen einer neuen staatlichen Ordnung Gedanken machten und das Grundgesetz von 1949 mit vor-bereiteten. In ihnen begegnete sich menschlich verkörperte und in den zwölf Jahren zuvor schmerzlich durchlittene Tradition.

Navid Kermani hat an dieser Stelle vor einiger Zeit daran erinnert, dass das Grundgesetz nicht das Ergebnis von Umfragen und Stimmungen von damals war. Die Menschen hatten andere Sorgen um den schwierigen Alltag zu bewältigen. Das Grundgesetz haben wir Männern und Frauen zu verdanken, die nach dem moralischen und politischen Ruin aus tiefen Überzeugungen die Grundlagen für unserer Gesellschaft gelegt haben, auf denen wir bis heute aufbauen und auf die wir stolz sein dürfen. Philipp Jenninger ist einer der letzten dieser Generation.

Für uns Junge war der Aufbau der demokratischen Institutionen, zuerst in den Gemeinden, dann in den Ländern und schließlich im Bund, faszinierende Staats- und Sozialkunde life. Mit Spannung haben wir am Radio die ersten Bundestagsdebatten verfolgt. Die im Grunde einzige neue aber zukunftsträchtige politische Nachkriegs-idee, die europäischen Einigung erweckte in uns Begeisterung. Der Nationalismus hatte unsägliches Unglück über Europa gebracht, nun sollten aus Feinden Freunde werden und in Europa eine in dieser Art neue Friedensordnung entstehen. Ins Ausland reisen, damals mit dem Fahrrad, war ein neues Erlebnis. das heute für junge Menschen, Gott sei Dank, selbstverständlich ist.

Es ging uns freilich auch das ganze Ausmaße des unfassbaren grauenvollen Verbrechens der Schoah auf. Die Versöhnung mit dem Judentum prägte sich uns tief ein. Sie hat die Politik, sie hat auch die Theologie verändert. Hoffentlich für immer.

Wir wären nicht jung gewesen, hätten wir nicht auch Sehnsüchte gehabt, und es wäre schlimm um uns bestellt gewesen, hätten wir nicht auch über die Realitäten hinaus geträumt. Nicht alle Blüten-träume gingen auf. Einige schon. Die ökumenische Öffnung der Kirchen hat uns befeuert. Im soeben zu Ende gegangenen Jahr hat sie Früchte getragen, wenngleich noch längest nicht alles auf-gegangen ist.

Philipp Jenninger ging nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften den Weg in die Politik. Von 1969 bis 1990 war er 21 Jahre im Bundestag, 1984-88 dessen Präsident. Die späten 60er und beginnenden 70er Jahren bezeichnen das Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Studentenbewegung leitete einen gesamtgesellschaftlichen bis heute fortwirkenden Prozess ein. Im politischen wie im akademischen Raum war es leider auch die Zeit harter, auch gewalttätiger Auseinandersetzungen und manchmal auch problematischer Idole.

Philipp Jenninger, der in der damaligen Bonner Republik viele Ämter inne hatte, hat damals nicht nach rückwärts sondern nach vorne geschaut. In diesen Jahren fielen wichtige Entscheidungen für die Einheit Deutschlands, an denen Philipp Jenninger weitsichtig, vorausschauend und mit langem Atem maßgebend beteiligt war. Der lange Atem und die Weitsicht haben sich 1989 für uns alle gelohnt.

Erwin Teufel nannte Philipp Jenninger einen christlichen Demokraten aus innerster Überzeugung. Das Parlament war ihm das Forum der Nation, in dem die wichtigsten Angelegenheiten der Nation erörtert werden. Er war Demokrat aus christlicher Grund Überzeugung. Für ihn war das Diktum von Ernst Wolfgang Böckenförde, 1983-96 Richter am Bundes-Verfassungsgericht, maßgebend: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Die jüdisch-christliche und die humanistische Tradition gehören dazu.

Freiheit ist ein Funke und ein Abbild des Absoluten, vom Schöpfer gegeben, sagten die Väter der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776). Der Staat kann und muss sie schützen, ihr Raum geben und sie fördern. Aber dass Menschen frei sind, dass sie und wie sie von ihrer Freiheit verantwortlich Gebrauch machen kann er nicht machen.

Philipp Jenninger war ein konservativer Idealist. Das scheint ein Paradox zu sein. Doch man kann - nach einer biblischen Parabel - das anvertraute Erbe nicht bewahren, indem man es im Boden vergräbt sondern indem man damit wuchert und es fruchtbar macht. Nur wer weiß woher er kommt, weiß wo er steht und wohin er gehen soll. Nicht wer wankt und schwankt, wer vielmehr fest steht kann aufbrechen und weitergehen. Philipp Jenninger war ein solcher zupackender Konservativer, fleißig, tüchtig, rechtschaffen, gerad-linig, verlässlich, bodenständig, heimatverbunden und zugleich weltoffen, und sehr wohl wissend, dass solcher Idealismus Tapferkeit verlangt, die bereit ist um des Ideals willen Nachteile, Verletzungen und Wunden in Kauf zu nehmen.

Er war ein leidenschaftlicher Demokrat. Demokratie lebt von Auseinandersetzungen, die um der Sache des Lebens, der Freiheit, der Gerechtigkeit willen gelegentlich leidenschaftlich sein müssen. Wenn das Ringen um Position aber dazu führt Personen zu fertig zu machen, herabzusetzen und zu demütigen, dann wird die Grundvoraussetzung der Demokratie beschädigt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Philipp Jenningers Fairness und Noblesse in noch so leidenschaftlicher Auseinandersetzung hat ihm über die Parteigrenzen hinweg Achtung und Ansehen verschafft.

Enttäuschungen und Missverständnisse blieben ihm nicht erspart. Das gilt insbesondere von jener Rede, die er am 10. November 1988 zur Erinnerung an 50 Jahre Reichspogromnacht 1938 im Bundestag gehalten hat. Ich habe sie nochmals gelesen und sie nochmals im Internet abgehört. Rhetorisch war sie ungeschickt vorgetragen. Daraus konnten Missverständnisse entstehen. Aber inhaltlich war es eine große Rede. Dass sie politisch korrekt war, hat Ignatz Bubis, 1992-99 Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, gezeigt. Er hat Passagen aus der Rede in seine eigene Rede aufgenommen und dafür Beifall bekommen.

Diese Rede war eine Zumutung. Sie hatte den Mut Lebenslügen zu zerstören. So etwas hört man ja nicht gerne. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass es eine verbrecherische Clique war, welche 1933 die Macht in Deutschland übernahm. Aber sie fragte: Wie konnte es dazu kommen? Warum ließen sich so viele blenden und oft faszinieren? Warum gab es so viele Mitläufer, soviel Wegschauen und so wenig Widerstand? Das zu verstehen heißt nicht im Geringsten es zu entschuldigen, heißt aber demütig und wachsam werden. Vor Befangenheit und Sich-gefangen-nehmen-Lassen von Stimmungen ist auch heute keiner gefeit.

Philipp Jenninger hat mit dieser Rede seinen Zuhörern viel zugemutet, auch sich selbst. Aber sollte Politik nicht auch den Mut haben Zumutungen aussprechen. Wir sollten vor allem junge Menschen nicht unterschätzen und nicht unterfordern. Wir sollen sie nicht überfordern, aber doch herausfordern, damit sie zeigen können, was in ihnen steckt, und das ist weit mehr als wir oft denken. Nur durch Herausforderungen können sie wachsen.
Philipp Jenninger hat für seine Zumutung bezahlt. Er hat lange nicht lange gefackelt, sondern sehr schnell Konsequenzen gezogen. Er wollte sein Amt nicht beschädigen. Das ist nicht einfach normal. Das ist nobel. Er sagte, er habe das mit dem Herrgott ausgemacht. Für manche mag das altväterlich klingen. Wer jemals solche Situationen durchgestanden hat, weiß in welche Tiefe das geht und wird jedem anderen, der solches ehrlich sagt, den Respekt nicht versagen.

Enttäuschungen und Verletzungen bleiben. Bei Philipp Jenninger jedoch keine Verbitterung. Auch das ist Größe. Er hat Neues begonnen, ist in den Auswärtigen Dienst gegangen, zuerst nach Wien, dann zwei Jahre als Botschafter beim Hl. Stuhl in Rom. Er bezeichnete diese zwei Jahre als die Krönung seiner Laufbahn. Das war nicht naiv als Erfüllung eines Jugendtraums gemeint. Ich habe Ähnliches von manchen Botschaftern beim Hl. Stuhl gehört, die zuvor rund um die Welt auf wichtigen Posten waren und die mir sagten: Das hier ist der interessanteste.

Rom ist eine Stadt, in der wie wohl in keiner anderen europäische Geschichte präsent ist und in der zugleich deutlich wird: Europa war in seiner ganzen Geschichte keine homogene Einheit sondern immer ein Kreuzungspunkt der Kulturen und ist es heute wieder. Kreuzungspunkt der Kulturen ist die Größe Europas. Philipp Jenninger war angetan von der Ostpolitik Johannes Paul II. Er kam aus Krakau. Krakau war bis 1918 Habsburg. Johannes Paul war ein polnischer Patriot, er war kein polnischer Nationalist Er hatte die Vision eines respektvollen Zusammenlebens von Völkern und Kulturen in Ost und West. Er war wie Philipp Jenninger ein Europäer.

Der Ruhestand war der friedliche Ausklang eines Lebens, das mit 85 Jahren die Geschichte und die Geschicke fast eines Jahrhunderts - und was für ein Jahrhundert - umspannte. Man muss am Ende vieles lassen. Philipp Jenninger hat diese Gelassenheit gelernt, aber er hat niemand verlassen. Er blieb den Menschen und blieb der Heimat treu und hat sich weiter um sie und um das Geschehen in der Welt gekümmert. Im Kreis der Familie, zusammen mit seiner Frau hat er auch den letzten Weg bestanden. Tapfer, aufrecht und gläubig.

Als Christ sage ich: Er möge ruhen im Frieden. Für alle aber ist sein Leben und sein Tod, eben um Zukunft zu haben, Grund die Erinnerung an dieses dramatische, tragische und doch dann wieder zur Hoffnung berechtigende Jahrhundert wachzuhalten. Auch darum halten wir Philipp Jenninger in hochachtungsvoller, dankbarer und guter Erinnerung.

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