DIE KIRCHENFRAGE IM LICHT DER GOTTESFRAGE

Kurt Cardinal Koch

„Katholische Kirche: Wesen – Wirklichkeit – Sendung“: Mit diesem relativ einfachen und eigentlich unprätentiösen Titel legt Kardinal Kasper seine umfangreiche Ekklesiologie vor. Ich freue mich, dieses grosse Werk heute abend kurz vorstellen zu können. Ich freue mich vor allem mit Kardinal Walter Kasper, dass er nach seiner Emeritierung als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen dieses Buch über die Kirche, das er sich schon lange vorgenommen hat, schreiben konnte, um seine grossen Monographien zur Christologie und zur Gotteslehre mit einem Buch zur Ekklesiologie abzurunden. Man merkt es diesem Buch in jedem Kapitel an, dass es das Ergebnis eines intensiven, freilich nicht nur wissenschaftlichen, sondern zunächst existenziellen, Ringens mit der Wirklichkeit der Katholischen Kirche darstellt. Wie der ausführliche erste Teil „Mein Weg in und mit der Kirche“ zeigt, hat sich Kardinal Kasper nicht nur als Professor in akademischer Weise und auch nicht nur als Bischof in amtlicher Weise mit der Kirche beschäftigt; die Kirche hat vielmehr zunächst mit seinem Leben und seiner persönlichen Lebenserfahrung zu tun. Dass der Kardinal in einer derart persönlichen Weise über die Kirche als Thema seines Lebensweges ausführlich Rechenschaft ablegt, verleiht dann auch seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die er im Hauptteil des Buches unter dem Titel „Grundzüge katholischer Ekklesiologie“ leistet, eine glaubwürdige Authentizität.

Letztlich wird nur ein solch persönlicher Zugangsweg auch dem wissenschaftlichen Traktat der Ekklesiologie gerecht, wie bereits die Geschichte zeigt. Denn die Ekklesiologie ist in der Geschichte der Kirche und der Theologie ein relativ später Traktat. Die Kirche ist in erster Linie nicht ein Objekt der Theologie, sondern das Subjekt und der Lebensraum, in dem auch Theologie sich vollzieht. Zu einer expliziten theologischen Thematisierung der Kirche ist es erst aufgrund konkreter Infragestellungen der geschichtlichen und institutionellen Wirklichkeit der Kirche gekommen. Der erste Anlass dürfte im späten Mittelalter die Bewegung des Konziliarismus gewesen sein, der freilich dazu geführt hat, dass in seiner Abwehr die Ekklesiologie vor allem zur Hierarchologie geworden ist, was durch die leidenschaftliche Kontroverse mit den Reformatoren im Laufe der Geschichte noch zugespitzt worden ist Aus dieser Verengung ist die Ekklesiologie erst durch das Zweite Vatikanische Konzil befreit worden, das die wohl erste umfassende und zusammenhängende Darstellung der katholischen Lehre von der Kirche gegeben hat, nachdem das Erste Vatikanische Konzil wegen des Ausbruchs des deutsch-französischen Krieges abgebrochen werden musste und von daher ein ekklesiologisches Fragment geblieben ist.

Auch von daher erklärt es sich, dass sich in Kardinal Kaspers Darstellung der katholischen Ekklesiologie das Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils wie ein roter Faden durchzieht. Das Zweite Vatikanische Konzil dürfte im Lebensweg von Kardinal Kasper ohne Zweifel das bewegendste ekklesiologische Ereignis gewesen sein, aus dem er seine eigenen ekklesiologischen Wegweisungen schöpft und das für ihn die Magna Charta der Katholischen Kirche auf ihrer Wanderschaft auch im Dritten Jahrtausend darstellt, Dies lässt sich vor allem daran ablesen, dass sein eigener ekklesiologischer Ansatz den Titel der Dogmatischen Konstitution über die Kirche konsequent ernst nimmt. Denn Lumen gentium ist gemäss dem konziliaren Kirchenverständnis gerade nicht die Kirche, sondern Christus ist das Licht der Völker, und die Kirche ist nur ihr Widerschein, genauerhin Zeichen und Werkzeug für Gott, der sich in Jesus Christus in endgültiger Weise offenbart hat. Die Kirche darf sich deshalb nicht selbst sonnen wollen, sondern sie muss sich damit zufrieden geben, Mond zu sein, der sein ganzes Licht von der Sonne erhält und es in die Nacht hinein strahlt. Wie der Mond das Licht nicht aus sicht selbst hat, sondern nur jenes Licht reflektiert, das ihm von der Sonne zukommt, so kann auch die Kirche nur jenes Licht weitergeben und in die Weltnacht der Menschen hinein strahlen, das sie selbst von Christus empfangen hat.

Im Dienst einer konsequenten Entfaltung einer lunaren Ekklesiologie steht das Buch von Kardinal Kasper über die katholische Kirche. Dass damit die elementare Intention des Zweiten Vatikanischen Konzils selbst getroffen ist, kann vielleicht eine kleine Episode zeigen, die in die Zeit der Vorbereitung auf das Konzil fällt. Als Papst Johannes XXIII. das Konzil angekündigt und einberufen hat, hat er bekanntlich kein präzises Thema vorgegeben; er hat vielmehr die Bischöfe in der ganzen Welt eingeladen, ihre eigenen Prioritäten vorzuschlagen, damit sich der Auftrag des Konzils aus den realen Erfahrungen des Lebens der universalen Kirche ergeben würde. Als in der deutschen Bischofskonferenz darüber beraten wurde, welche Themen man für das Konzil vorschlagen sollte, brachten die deutschen Bischöfe ihre Überzeugung zum Ausdruck, das Hauptthema müsse die Kirche sein und das Konzil müsse ein Konzil der Kirche sein. Da ergriff der bereits alte Bischof Buchberger von Regensburg das Wort und betonte, das Allerwichtigste auf dem Konzil müsse darin bestehen, dass von Gott gesprochen werde. Wiewohl die anderen Bischöfe von dieser Intervention berührt gewesen sind, konnten sie sich dennoch nicht dazu durchringen, die Gottesfrage als zentrales Thema für das Konzil vorzuschlagen.

Es ist ein schönes Zeichen, dass es heute wiederum ein deutscher Bischof und Kardinal ist, der diese entscheidende Wegweisung aufgreift, die Gottesfrage an die erste Stelle und in den Mittelpunkt des Redens über die Kirche rückt und deshalb Ekklesiologie im emphatischen Sinne als Theo-Logie versteht und vollzieht. In dieser theozentrischen Wende in der Theologie, vor allem in der Theologie von der Kirche und in ihrer Praxis, liegt das Hauptanliegen des Buches von Kardinal Kasper, wie er es selbst mit den Worten umschreibt: „Dieses Buch will keine neue, sondern die im Sinn des Zweiten Vatikanischen Konzils erneuerte katholische Ekklesiologie darstellen. Dabei will es die Kirchenfrage im Licht der Gottesfrage und der Reich-Gottes-Botschaft darlegen, um auf diese Weise die Kirche sowohl biblisch wie existenziell zu verorten“ (Seite 67), Diesem Anliegen ist vor allem der umfangreiche Abschnitt verpflichtet, der den „universal- und heilsgeschichtlichen Horizont“ der Kirche und der Ekklesiologie ausleuchtet (Seiten 102-179).

Im Licht der Gottesfrage nimmt Kardinal Kasper eine trinitätstheologische „Wesensbestimmung der Kirche“ vor, indem er die Kirche als Volk Gottes, als Leib und Braut Christi und als Tempel des Heiligen Geistes vorstellt. Anschliessend behandelt er die Wesensmerkmale der Kirche, ihre Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität. Weil diese Wesenseigenschaften aufgrund der historischen Kirchenspaltungen Gegenstand von kontroversen Auseinandersetzungen geworden sind, bietet vor allem dieses Kapitel den Ort, an dem Kardinal Kasper über die in der ökumenischen Diskussion im Vordergrund stehenden Fragen eingehend informiert und den heutigen Stand des ökumenischen Gesprächs wiedergibt. Dessen Grundschwierigkeit diagnostiziert er dabei darin, dass die verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ein unterschiedliches Kirchenverständnis und in der Folge auch ein unterschiedliches Verständnis von der Einheit der Kirche vertreten, so dass das Ziel der Ökumenischen Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten immer diffuser geworden ist. Insofern liegt das ökumenische Hauptproblem nicht einfach in der Amtsfrage vor, sondern in der Amtsfrage im weiteren Kontext der Kirchenfrage.

Ekklesiologie im Licht der Gottesfrage zu entwickeln hat zur Konsequenz, dass wir heute eine theologisch-geistliche Erneuerung der Kirche dringend nötig haben. Sie stellt sich als viel zeitgemässer als alle äusseren und strukturellen Reformen heraus, die heute unter dem Stichwort eines so genannten Reformstaus verhandelt und eingefordert werden. Denn äussere Reformen und strukturelle Veränderungen führen zu einem ziellosen Aktionismus und einer binnenkirchlichen Abschottung, wenn sie nicht mit einer geistlichen Erneuerung gleichsam unterfüttert werden. Auf der andern Seite freilich droht eine geistliche Erneuerung ohne konkrete Reformschritte sich in einen weltfremden Spiritualismus zu verflüchtigen. Geistliche Erneuerung und konkrete Kirchenreform gehören deshalb unlösbar zusammen. Da sich die heute viel beredete Kirchenkrise bei einer tieferen Betrachtung als elementare Gotteskrise herausstellt und da die entscheidende Herausforderung, in der die Kirche heute steht, durch den Säkularismus gegeben ixt, ist heute aber vor allem eine geistliche Erneuerung der Kirche angesagt.

Sowohl die geistliche Erneuerung als auch die Kirchenreform betrachtet Kardinal Kasper im Licht der theologischen Leitidee der Communio, mit der die Bischofssynode im Jahre 1985, an der er als Sekretär gewirkt hat, zwanzig Jahre nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils dessen Grundanliegen zusammengefasst und die konziliare Kirchenlehre vor allem als Communio-Ekklesiologie verdichtet hat. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass Communio nicht als soziologischer Begriff angewendet wird und nicht einfach Gemeinschaft bezeichnet. Communio ist vielmehr ein streng theologischer Begriff und bezeichnet vor allem die Teilhabe, die Partizipation an der trinitarischen Communio, so dass die Kirche als Ikone der Trinität zu verstehen ist und die kirchliche communio konkret begründet wird durch die beiden Fundamentalsakramente der Taufe und der Eucharistie. Kardinal Kasper ist es dabei ein wichtiges Anliegen, auch die konkreten Konsequenzen, die sich aus dem Communio-Begriff ergeben, zu benennen und zu bedenken, was er unter der Überschrift „Die konkrete Communio-Gestalt der Kirche“ (Seiten 285-408) unternimmt.

Eine besondere Dimension der Communio-Wirklichkeit der Kirche erblickt Kardinal Kasper im dialogischen Stil, mit dem die Kirche lebt. Eine dialogische Kirche steht heute in einer vielfältigen Gesprächssituation und pflegt den Dialog nicht nur nach innen in einem kommunikativen und partizipatorischen Stil, sondern auch nach aussen im Dialog mit dem Gottesvolk des Alten Bundes, im ökumenischen Dialog, im Dialog mit den Religionen und im Dialog mit der Welt von heute. Da ein wahrhafter Dialog nicht das Aufgeben der eigenen Identität, sondern vielmehr das Wachsen in der eigenen Identität durch die Begegnung mit Anderen beinhaltet und deshalb mit Subjektivismus, Relativismus und Synkretismus nichts zu tun hat, sondern sich der Wahrheitsfrage stellt, bilden die dialogische und die missionarische Dimension der Kirche keinen Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig. Denn die Kirche ruht nicht in sich selbst, sondern steht im Dienst jener Sendung, mit der sie der auferstandene Christus betraut hat und die Kardinal Kasper als „Dienst der Transformation der Welt aus dem Geist des anbrechenden Reiches Gottes“ (Seite 414) bezeichnet.

Die Konzentration auf die missionarische Dimension der Kirche, die heute vor allem unter dem Stichwort der Neuen Evangelisierung verhandelt wird, verfolgt bei Kardinal Kasper auch das Ziel, Antwort auf die bohrende und bedrängende Frage geben zu können, wohin der Weg der Kirche führen wird. Dieser Fragestellung nimmt sich das kleine, aber gehaltvolle und perspektivenreiche Schlusskapitel (Seiten 463-488) an. Wie jeder Arzt nur dann eine sinnvolle Therapie einleiten kann, wenn er sich zuerst um eine aufschlussreiche Anamnese bemüht und eine konkrete Diagnose wagt, so geht auch Kardinal Kasper von einer konkreten Diagnose aus, die darin besteht, dass er eine ebenso vielfältige wie vielschichtige Krise in der katholischen Kirche heute wahrnimmt. Dabei hält er sich aber nicht einfach bei Oberflächenphänomenen auf, sondern fragt nach den tiefer liegenden Ursachen dieser Krise und erblickt sie darin, „dass eine Epoche der Kirchengeschichte zu Ende geht, ohne dass schon neue Horizonte, wie es weitergehen soll, deutlich sichtbar sind“ (Seite 463).

Für Kardinal Kasper kann deshalb die volkskirchliche Gestalt der Kirche, die gewiss ihre grosse Geschichte gehabt und auch viel Grosses geleistet hat, die aber angesichts der heutigen pluralistischen Situation zu Ende geht, keine in die Zukunft weisende Gestalt der Kirche im dritten Jahrtausend sein. In dieser Diagnose unterscheidet sich Kardinal Kasper von vielen Kirchendiagnostikern, die sich im Grunde nicht damit abfinden können, dass die Sozialgestalt der Volkskirche sich historisch weithin verbraucht hat, die in ihrer Abschiedstrauer überall nach Sündenböcken für die auch von ihnen wahrgenommene prekäre Situation der Volkskirche suchen und sie mit Vorliebe bei der Kirchenleitung ausfindig machen und deren Reformforderungen im Grunde auf die Aufrechterhaltung der Volkskirche zielen. Demgegenüber schaut Kardinal Kasper mit klarem Blick in die Zukunft und sieht die kritische Situation der Kirche im Zusammenhang der gravierenden Transformationsprozesse, die in der heutigen Gesellschaft stattfinden. Von daher sieht er Zukunft für die Kirche nicht in der Aufrechterhaltung anachronistisch gewordener volkskirchlicher Strukturen, sondern teilt er die Überzeugung des grossen Historikers Arnold J. Toynbee, dass es in sehr schwierigen Situationen der Geschichte der Menschheit immer qualifizierte und kreative Minderheiten gewesen sind, die aus der verfahrenen Situation einen Ausweg gewiesen haben, dem sich dann auch die Mehrheit anschliessen konnte.

In diesem Sinn muss die Kirche heute lernen, Abschied zu nehmen auch von selbstverständlich gewordenen Verhaltensweisen, die aber nicht mehr in die Zukunft weisen. Ein solcher Abschied kann aber nur gelingen, wenn neuer Mut zur Zukunft gefunden werden und wenn mit dem Abschied ein neuer Aufbruch verbunden sein kann. Ein solcher Neuaufbruch erweist sich nur als möglich, wenn drei Wirklichkeiten zusammenkommen und zusammenspielen, nämlich „eine aus den Quellen gespeiste geistliche Erneuerung, solide theologische Reflexion und kirchliche Gesinnung“ (Seite 468). Diesen drei elementaren Grundhaltungen kann man im Buch von Kardinal Kasper gleichsam auf Schritt und Tritt begegnen, weshalb es bei allem Realismus und aller ungeschminkten Benennung der Probleme ein hoffnungsvolles Buch ist.

Kardinal Kasper ist sich dabei dessen bewusst, dass die geistliche Erneuerung der Kirche, die wir heute dringend brauchen, letztlich „nur durch ein erneuertes Pfingsten“ möglich sein wird. Wie die Jünger damals sich zusammen mit den Frauen, die Jesus begleitet haben, versammelt haben und im Gebet um das Kommen des Heiligen Geistes einmütig verharrt sind, so kann ein neues Pfingsten auch heute nur durch intensives Gebet vorbereitet werden, zumal die Kirche der Zukunft „vor allem eine Kirche der Beter“ sein wird (Seite 488). Denn das Gebet ist der Quellort jener Freude an Gott, von der das alttestamentliche Buch Nehemia sagt, sie sei „unsere Stärke“.

Nur aus dieser Freude an Gott kann auch Freude an der Kirche erwachen, die freilich nicht Freude ist, die wir uns selbst bereiten und deshalb selten Bestand hat. Die Freude, um die es im christlichen Glauben geht, ist die Freude, die letztlich nur der Geist schenken kann. Solche Freude ist so sehr das Erkennungszeichen des Christlichen, dass man als Kriterium für die heute so notwendige Unterscheidung der Geister formulieren kann: Überall dort, wo – auch und gerade in der Kirche – Freudlosigkeit und deprimierte Aufgebrachtheit herrschen, ist der Geist Jesu Christi gewiss nicht am Werk. Dort wirkt vielmehr der manchmal so freudlos gewordene Zeitgeist. Von diesem Zeitgeist spürt man im Buch von Kardinal Kasper nichts. Wohl aber ist jener Geist Gottes zu spüren, der uns in das Herz des Glaubens und der Kirche hinein führt und uns jene Freude schenkt, die trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, Lasten und Widerwärtigkeiten Bestand hat. Dass Kardinal Kaspers Buch über die Katholische Kirche von solcher Freude Zeugnis ablegt und bei den Lesenden zu solcher Freude anstiften will, dafür sei ihm ein herzliches Wort des aufrichtigen Dankes gesagt.