Aktuelle Fragen zu Gesellschaft, Kultur und Kirche

Kardinal Walter Kasper

Aus dem mir gestellten Thema „Aktuelle Fragen zu Gesellschaft, Kultur und Kirche“ kann ich im folgenden nur einige wenige Probleme herausgreifen. Ich möchte sie behandeln aufgrund meiner Erfahrungen und Verantwortlichkeiten in Rom. Es geht mir dabei nicht um so etwas wie vatikanische Politik. Ich verstehe mich nicht als Vatikandiplomat, sondern als Seelsorger, als Theologe, als ein aufmerksamer Beobachter und als ein nachdenklicher Zeitgenosse. Ich beginne mit einem Problemkreis, mit dem ich gegenwärtig befasst bin, der für Deutschland wie für die Welt große Bedeutung hat: Die Beziehungen zum Judentum.

1. Religiöse Beziehungen zum Judentum.

Es geht nicht um den Staat Israel und die politischen Beziehungen, welche der Hl. Stuhl mit dem Staat Israel seit 1994 unterhält. Es geht um die religiösen Beziehungen zum Judentum in aller Welt. Das ist für uns Deutsche aufgrund unserer Geschichte wichtig und auch aufregend. Ich hatte deshalb zunächst große Bedenken, diese Aufgabe zu übernehmen, habe aber jüdische Freunde gewonnen, die mir die Sache leicht gemacht haben.

Die Beziehungen der katholischen Kirche (wie aller Kirchen) mit dem Judentum sind geschichtlich wahrlich nicht unbelastet. Die Belastungen bestehen nicht erst seit dem Dritten Reich und dem Holocaust, sondern gehen weit ins Altertum und ins Mittelalter zurück. Inzwischen hat eine Drehung um 180 Grad stattgefunden. Viele religiöse Juden betrachten die katholische Kirche inzwischen als eine Alliierte. Das ist das Verdienst von Johannes XXIII. und Johannes Paul II. Das II. Vatikanische Konzil hat mit der Judenerklärung in „Nostra aetate“ (1965) die Grundlagen gelegt. Ihr weiß sich Benedikt XVI. aus Überzeugung verpflichtet.

Diese Erklärung hat nicht nur alle Formen des Antisemitismus verurteilt. Sie hat darüber hinaus die jüdischen Wurzeln und das jüdische Erbe im Christentum wiederentdeckt und darüber hinaus betont, dass der Bund mit Israel aufgrund der Treue Gottes weiterhin in Kraft ist (Röm 11). Johannes Paul II. hat die Juden als unsere älteren Brüder im Glauben Abrahams bezeichnet.

Die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum sind freilich offenkundig. Sie gehen ins Mark; denn sie betreffen Person und Bedeutung Jesu Christi. Mit dem Judentum ist darum keine auf Einheit zielende Ökumene möglich, aber ebenso wenig eine Mission so wie sie den Christen gegenüber anderen Religionen aufgetragen ist. Die endgültige Klärung wird wohl erst am Ende der Zeit stattfinden. Bis dahin können wir aber gute Wegbegleiter sein.

Man muss freilich wissen, dass es auf diesem Weg einige heiße Eisen gibt: Der traditionelle theologische Antijudaismus, der ein Mistbeet (neben anderen) für den Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts war. Das Verbrechen des Holocaust, die Haltung Pius XII., die Öffnung der vatikanischen Archive, die mittelalterlichen Pogrome und Zwangsbekehrungen usw.

Trotz dieser nicht einfachen Probleme gibt es inzwischen nicht nur Dialoge, sondern intensive Zusammenarbeit. Der internationale Dialog geschieht seit 1970 im Rahmen des Liaison-Komitees mit dem Internationalen jüdischen Komitee für interreligiöse Konsultationen (IJCIC). Dazu kommt eine sehr erfolgreiche Gesprächsgruppe mit dem Großrabbinat von Israel. Dabei sind wir den Weg vom Dialog zur Zusammenarbeit gegangen: in Argentinien für hungernde Kinder, in Südafrika gegen die Aids-Epidemie. Wichtig ist selbstverständlich auch die Zusammenarbeit im Kampf gegen neue Formen des Antisemitismus.

Leider sind die Jüngsten die kriegerischen Auseinadersetzungen im Libanon eine Belastung. Die vatikanische Position ist durch den Papst mehrfach deutlich und – wie ich meine – ausgewogen formuliert worden:

1. Der Libanon ist ein souveräner Staat, der als solcher zu achten ist;
2. Israel hat ein Recht auf Existenz und damit ein Recht zur Selbstverteidigung, freilich im Rahmen des internationalen Rechts;
3. die Palästinenser haben ebenfalls ein Recht auf einen eignen Staat. Im privaten Gespräch kann man manches Kritische sagen und auch von jüdischer Seite hören. Öffentlich wird man als Deutscher zwar offen und ehrlich, aber öffentlich eher zurückhaltend sein.

Die jüdisch-christlichen Beziehungen werden eine schwierige Beziehung bleiben. Sie sind aber auch ein Beispiel dafür, wie aus Feindschaft Versöhnung, ja Freundschaft werden kann. Insofern können sie vorbildlich und modellhaft für die Lösung anderer alter und tief verwurzelter Konflikte in der Welt sein.

2. Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Islam

Der Konflikt im Nahen Osten ist die Mutter vieler anderen Konflikte, nicht zuletzt der jüngeren Auseinandersetzung mit dem Islam, die immer mehr als eine der großen Herausforderungen der Gegenwart gesehen wird. Auch mit dem Islam gibt es Gemeinsamkeiten: Der Glaube an den einen Gott, den die Muslime als all-barmherzig bezeichnen, der Bezug auf Abraham als Vorbild der Glaubenshingabe (Islam). Das II. Vatikanische Konzil hat – ebenfalls in „Nostra aetate“ – dem Islam seinen Respekt bezeugt. Die Aussagen des Konzils wurden von Papst Johannes Paul II. wie von Papst Benedikt XVI. wiederholt und ausdrücklich bestätigt. Die Intention der Aussagen – im Grunde nur ein Satz – von Regensburg sind inzwischen eindeutig klar gestellt. Für diesen Dialog gibt es in Rom einen eigenen Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog. Die grundsätzliche Option ist also klar: Wir wollen einen ehrlichen Dialog mit den Muslimen.

Anders als das Judentum hat der Islam freilich keine konstitutive Bedeutung für das Christentum. Er ist eine nachchristliche Religion. Er hat zwar manches mit dem Christentum gemeinsam; aber er hat sich gegen das orthodoxe Christentum gebildet. So ist ihm von Anfang an ein kritisches Verhältnis zum Christentum mitgegeben. Er versteht sich als eine Religion, die dem Christentum überlegen ist. Das Verhältnis zur Gewalt und gewaltsamen Ausbreitung ist strukturell ambivalent. Der Islam gewährt dort, wo er in der Mehrheit ist, keine Religionsfreiheit, wenigstens nicht in unserem Sinn. So darf man bei diesem Dialog nicht blauäugig sein.

Der Islam ist nicht nur eine andere Religion, sondern auch eine andere Kultur, d.h. ein anderes Wertsystem und eine andere Lebensweise. Eine andere Kultur heißt nicht eine minderwertigere Kultur, wohl aber eine Kultur, welche bis jetzt keinen Zugang zu dem gefunden hat, was die positiven Seiten unserer modernen westlichen Kultur ausmacht.

Die Auseinandersetzung mit dem Islam durchzieht die gesamte europäische Geschichte. Sie beginnt mit der Reconquista Spaniens angefangen bei Karl Martell und seinem Sieg von 732 bei Poitiers und Tours bis zur Eroberung Granadas 1492. Sie setzt sich fort in den mittelalterlichen Kreuzzügen, dann in den Türkenkriegen des 16./17. Jahrhunderts mit dem Sieg in der Seeschlacht von Lepanto 1571, 1683 der Sieg der Türken vor Wien und der Sieg von Prinz Eugen 1697.

Neben kriegerischern Auseinandersetzungen gab es auch fruchtbare Begegnungen: Es ist bezeichnend, dass wir nicht mit römischen, sondern mit arabischen Zahlen rechnen. Erwähnenswert ist der geniale Stauferkaiser Friedrich II. (1194-1250) („stupor mundi“), der mit arabischen Gelehrten in Verbindung trat. Die Kenntnis der Schriften des Aristoteles, die in der Scholastik durch arabische Gelehrte (Avicenna, Averroes) vermittelt wurde. Es bestand damals also ein reger Austausch. Auch Denker wie Nikolaus von Kues u.a. sind zu nennen. Das alles zeigt: Europa ist in der Auseinandersetzung wie in der Begegnung mit dem Islam zu Europa geworden.

Heute scheint uns eine neue Auseinandersetzung und Begegnung mit dem Islam bevorzustehen. Die Auseinandersetzung geschieht auf verschiedenen Bühnen: Einerseits geht es um die Muslime die unter uns leben (in Deutschland etwa 3,5 Mill.) und um deren Integration, zum anderen geht es um den Beitritt der Türkei zur EU, und schließlich geht es um den Terrorismus, der großenteils aus einem muslimischen Umfeld kommt.

Zuerst zu den beiden erstgenannten Ebenen: Europa will kein „christlicher Klub“ sein, sondern aufgrund seines eigenen Selbstverständnisses eine weltoffene Gemeinschaft. Das ist freilich etwas anderes als ein bloßes Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen. Dieses „Multikulti“ ist europaweit gescheitert. Jede Gesellschaft braucht ein gewisses Maß gemeinsamer Wertvorstellungen und Regeln um friedlich zusammenleben zu können. Integration setzt gegenseitiges Kennen voraus. Damit stehen wir weithin erst am Anfang. Sie setzt weiter eine Mindestbasis gemeinsamer Werte voraus, d.h. eine Kultur gegenseitiger Toleranz und gegenseitigen Respekts. Integration in eine Kultur ist darum nicht ohne gleichzeitige Ausgrenzung solcher möglich, die den Minimalkonsens verweigern. Toleranz gegenüber militanter Intoleranz ist nicht möglich.

Andererseits kann nur eine Kultur, welche sich ihrer eigenen Identität bewusst ist, andere integrieren. Nur wer einen eigenen Standpunkt und eine eigene Identität hat, kann einen anderen Standpunkt respektieren. In diesem Sinn kann Europa die alte christliche Tugend der Gastfreundschaft üben und Vertreter anderer Kulturen bei sich willkommen heißen, sofern diese ihrerseits unsere Wertordnung respektieren.

Ob freilich ein Euroislam, der Islam und Demokratie (die mehr ist als demokratische Wahlen) verbindet, in Zukunft möglich sein wird, kann heute niemand sagen. Sicherlich ist er wünschbar und erstrebenswert, aber man darf den Wunsch nicht mit der Realität verwechseln. Ähnliches gilt für den Beitritt der Türkei zur EU. Es besteht Konsens, dass ein solcher Beitritt heute nicht möglich ist; ob er in 10-15 Jahren möglich sein wird, kann niemand vorhersagen. Es ist offensichtlich, dass sich dazu in der Türkei Grundlegendes wandeln müsste und dies nicht nur in Gesetzen, d.h. auf dem Papier sondern in der Kultur und im Lebensgefühl der Menschen (Menschenrechte, Religionsfreiheit, Stellung der Frau usw.).

Wenn man zu der grundsätzlichen Frage der Begegnung mit dem Islam kommt, stellt sich sofort die Frage: Mit welchem Islam? Der Islam ist keine monolithische Größe. Dass es unter den Muslimen Sunniten und Schiiten gibt, die sich mitnichten freundlich gesinnt sind, erfahren wir jeden Tag aus den Nachrichten. Außerdem gibt es den mystischen Islam (Sufismus) und schlicht fromme Muslime, daneben aber auch sogenannte Kulturmuslime. Der Islam ist nicht auf die arabische Welt beschränkt. Weder die Türken, noch die Iraner und erst recht nicht die Pakistani und die Indonesier (das größte muslimische Land) sind Araber, und auch unter den Arabern hält sich die Solidarität in der arabischen Liga in Grenzen. Auch den unter uns lebenden Muslimen ist es bisher nicht gelungen, eine alle vertretende Organisation zu bilden. Deshalb ist es eine Grundschwierigkeit des Dialogs, kompetente und anerkannte muslimische Repräsentanten zu finden. Das bedeutet freilich auch: Man darf den Islam nicht in globo zum Feinbild aufbauen.

Von allen diesen Formen muss man den radikalen Islamismus (Dschihadisten) unterscheiden. Er ist keine Religion, sondern eine gefährliche radikale politische Ideologie, für welche die Religion nur Vorwand und gleichsam Maske ist. Der Kampf gilt nicht nur dem Wesen, sondern auch den islamischen Regimen. Es geht also auch um einen inner-islamischen Kampf. Der Zorn entsteht aus dem Frust über den kulturellen Rückstand und den inneren Zustand der islamischen Regime und dem Hass gegenüber dem als gottlos und dekadent angesehenen Westen. Die Terroristen sind meist Verlierer, die nichts zu verlieren haben (M. Enzensberger).

Dieser Terrorismus ist eine Infragestellung aller humanen und religiösen Werte, nicht nur derer Europas, sondern der gesamten zivilisierten Menschheit. Er kann sich nicht auf den Islam berufen. Er instrumentalisiert vielmehr den Islam. Im Namen Gottes zu töten ist eine Perversion der Religion, nicht nur eine Missachtung der Würde des Menschen, sondern auch der Gottes. Der Anschlag vom 11. September 2001 auf das World-Trade-Center in New York und die Anschläge in Madrid, London u.a. sind eine Herausforderung für die gesamte zivilisierte Menschheit.

Natürlich braucht man für die Auseinandersetzung mit dem radikalen Islam polizeiliche und im Extremfall auch militärische Mittel. Das zu leugnen wäre naiv. Letztlich geht es freilich um eine geistige und moralische Auseinandersetzung. Dazu gehört der Aufbau einer Friedensordnung, welche auf der Achtung der Menschenrechte wie auf Gerechtigkeit und Solidarität gründet und die allein auf Dauer ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Zur Auseinandersetzung gehört ebenso, dass wir selbst ernst zu nehmende Partner sind, die ihre eigene Kultur kennen, sie schätzen, für sie eintreten und sie leben. Andernfalls verdienen wir die Verachtung der Muslime. Wir haben keinen Grund, nicht mehr zu unserer Kultur zu stehen, einzuknicken, uns in vorauseilendem Gehorsam und in Unterwerfungsgesten zu üben. Als Europäer haben wir Grund zum Selbstbewusstsein, was nicht heißt: Überheblichkeit, zu zeigen. Der bekannte amerikanische „Weltökonom“ Jeremy Rifkins hat gezeigt, dass der europäische Traum keineswegs am Ende ist.

3. Integration von Ost- und Westeuropa und der Dialog mit der Orthodoxie

Die Integration von Ost- und Westeuropa tritt mit dem Eintritt von Rumänien und Bulgarien, zwei mehrheitlich orthodoxe Länder, in die EU in eine neue Phase. Erstmals gehört damit ein Land mit kyrillischer Schrift zur EU. Das zeigt, dass der Dialog mit der orthodoxen Kirche nicht nur ein theologisches, sondern ein kulturelles europäisches Problem darstellt. Die Orthodoxie hat über mehr als ein Jahrtausend die Kultur Osteuropas (außer Polen, Kroatien und die baltischen Staaten) geprägt. Ohne sie kann die Integration nicht gelingen; es geht nicht nur um einen ökonomisches, sondern auch um ein ökumenisches Problem.

Ost- und Westeuropa haben sich schon im ost- und weströmischen Reich unterschiedlich entwickelt und unterschiedliche Kulturen entwickelt. Die Größe byzantinischer Kultur kann jeder erfassen, der etwa schon einmal in Ravenna war, in Konstantinopel (Istanbul) die Hagia Sophia, die Basiliken im Moskauer Kreml besucht hat oder die Welt der Ikonen schätzt. Die lateinische und die orthodoxe Kirche sind sich dogmatisch in den meisten Fragen sehr nahe (außer dem Primat); sie sind aber nicht nur zwei getrennte Kirchen, sondern auch zwei unterschiedliche Kulturen und unterschiedliche Mentalitäten.

Beide Kulturwelten entfremdeten sich jedoch vollends als mit Karl d. Gr. im Westen ein eigenes römisches Reich entstand, die Kreuzzüge (besonders die Eroberung von Konstantinopel 1204) im Osten als feindlich wahrgenommen wurden und der Osten schließlich Jahrhunderte lang unter die Türkenherrschaft fiel. Allein Russland blieb als Erbe von Byzanz und als drittes Rom übrig, stand aber in einer Dauerauseinandersetzung mit dem katholischen Polen, eine Auseinandersetzung, welche mentalitätsmäßig bis heute andauert. Schließlich kamen in der Neuzeit noch die Teilunionen mit einigen orientalischen Kirchen (so genannter Uniatismus) besonders in der Ukraine und in Rumänien hinzu. Sie haben das Klima bis heute vergiftet.

Im 20. Jahrhundert wurden in den 70 bzw. 40 Jahren kommunistischer Terrorherrschaft antiwestliche und antirömische Affekte zusätzlich geschürt. Außerdem hat der Kommunismus in den Ländern Osteuropas nicht nur die Wirtschaft, sondern auch viele menschliche Werte in den Seelen der Menschen zerstört. Inzwischen haben die orthodoxen Kirchen Osteuropas große Aufbauleistungen erbracht, aber der innere Heilungsprozess wird wohl noch ein bis zwei Generationen in Anspruch nehmen. Wer mit der Orthodoxie spricht muss außer viel Verständnis eine gute Portion Geduld mitbringen.

Das alles (und einiges dazu) muss man wissen, wenn man über die Integration Osteuropas nachdenkt. Sie ist keineswegs allein ein ökonomisches Problem ein ökumenisches und ein kulturelles Problem, das man nur mit großer Behutsamkeit und mit viel Geduld angehen kann. Die Integration ist heute nach Jahrhunderten des Auseinanderlebens eine einmalige geschichtliche Chance. Hier wächst zusammen, was zusammen gehört. Die Lösung kann freilich nicht in einer einseitigen Anpassung Osteuropas an Westeuropa bestehen. Dagegen wehren sich vor allem Russland und die russisch-orthodoxe Kirche. Teilweise kann man von dort slawophile Ideen aus dem 19. Jahrhundert und eine Verachtung des als dekadent bezeichneten westlichen Liberalismus vernehmen.

Unsere westlichen demokratischen Ideen und unsere westliche Unterscheidung von Kirche und Staat erscheinen dem Osten nicht ohne weiteres wünschenswert. Der Osten hat über Jahrhunderte den byzantinischen Caesaropapismus, d.h. die Symphonie zwischen Kirche und Staat (heute der Kirche mit dem Volk und seiner Kultur) tradiert; so kann er sich nicht nur etwa mit dem „System Putin“ anfreunden. Die orthodoxen Kirchen sind als selbstständige (autokephale) Nationalkirchen verfasst, eine universalkirchliche (und damit auch gesamteuropäische) Sicht ist ihnen weithin verdächtig und fremd.

So steht beiden Seiten noch ein längerer Lernprozess bevor. Die europäische Integration und die heutigen Kommunikationsmöglichkeiten können helfen. Beide machen im Osten aber auch Angst, man könne die eigene Identität verlieren und unter westlichen Säkularisierungsdruck geraten. Deshalb wird vom Osten vorgeschlagen, zusammenzuarbeiten um in Ost und West die christlichen Wurzeln und Werte wieder zu entdecken. Die Grundfrage ist also, wie es zu einer konstruktiven Überwindung des Säkularismus kommen kann, der Ost und West in unterschiedlicher die europäische Kultur erschüttert hat.

4. Religion, Säkularität, Postsäkularität

Sowohl die Begegnung mit dem Judentum wie die Auseinandersetzung mit dem Islam undder Dialog mit der Orthodoxie machen deutlich: Die Religion kehrt auf die Weltbühne zurück und entfaltet dort eine unerhörte Brisanz. Die These von der fortschreitenden Säkularisierung hat sich nicht bewährt. Amerikanische Religionssoziologen sprechen schon länger von der „persistence of religion“. Inzwischen kann man nicht mehr vom langsamen Absterben der Religion durch eine unaufhaltbar voranschreitende Säkularisierung sprechen. S. Huntington’s Bestseller „Clash of civilisations“ macht das vollends deutlich.
Im Unterschied zum Judentum und zum Islam ist für das Christentum die Unterscheidung von religiöser und politischer Ordnung grundlegend. Diese Unterscheidung ist bereits in dem Wort Jesu grundgelegt, man solle Gott geben, was Gottes ist und dem Kaiser, was des Kaiser ist (Mk 12,13-17 par.). Schon im 4./5. Jahrhundert zogen Kirchenväter wie Ambrosius und Papst Gelasius die Konsequenzen aus dieser Unterscheidung. Das Christentum hält es – wie der Papst in Regensburg dargelegt hat – nicht mit politischer Gewalt, sondern mit der Vernunft.

Das führte zu vielen Konflikten: In den Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte wurden die Christen verfolgt, weil sie dem Kaiser die religiöse Verehrung verweigerten. Im mittelalterlichen Investiturstreit und in den Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser ging es vor allem um die Freiheit der Kirche. In der Zeit des Absolutismus im 16.-18. Jahrhundert mussten Tendenzen staatskirchlicher Reglementierung als Eingriffe in den Bereich der Kirche abgewehrt werden. Schließlich ging es in dem blutigen Konflikt mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts um alles oder nichts. Die Kirchen obsiegten.

Heute steht die Kirche für Religionsfreiheit. Sie identifiziert sich mit keinem konkreten politischen System und beansprucht keine privilegierte Stellung im Staat. Das II. Vatikanische Konzil hat dies eindeutig und verbindlich festgeschrieben. Das bedeutet: die Kirche anerkennt die legitime Laizität (d.h. legitime Autonomie) des Staates, widersetzt sich aber dem Laizismus, einer Ideologie aus dem 19. Jahrhundert, die sich modern gibt aber angesichts der gegenwärtigen Entwicklung inzwischen recht alt aussieht. Mit diesem laizistischen Staats- und Kulturverständnis, das Kirche und Staat nicht nur unterscheiden, sondern grundsätzlich trennen will, die Religion auf den Bereich des Privaten beschränken und religiöse Symbole grundsätzlich aus der Öffentlichkeit verbannen will gerät die Kirche in Konflikt. Sie erweist sich damit als die wahre Anwältin der Freiheit; denn in dieser Ideologie wird die liberale Toleranz selbst intolerant und repressiv.

Das Problem wurde aktuell bei der Diskussion um die europäische Verfassung. Trotz vieler Bemühungen ist es nicht gelungen, den Gottesbezug in die Präambel aufzunehmen und die christlichen Wurzeln Europas konkret zu benennen. Bereits 1995 erhitzte das sogenannte Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts über das Anbringen von Kruzifixen in öffentlichen Schulen die Gemüter. Die negative Religionsfreiheit des einzelnen, d.h. das Recht nicht zu religiösen Akten gezwungen zu werden, wird hier einseitig geschützt ohne es mit der positiven Religionsfreiheit, dem Recht zum öffentlichen Bekenntnis des eigenen Glaubens zum Ausgleich zu bringen. Das ist die klassische Position des säkularistischen Liberalismus. Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts im so genannten Kopftuchstreit scheint diese Einseitigkeit wieder zu korrigieren. Es öffnet grundsätzlich die Tür zur Wahrnehmung und Akzeptanz der Religion im öffentlichen Raum.

Dass man jüdische religiöse Symbole nicht lächerlich machen darf, ist zu Recht gesetzlich geregelt. Dass dies auch für islamische Religion gelten sollte, haben die meisten nach dem unseligen jüngsten Karikaturenstreit wohl eingesehen. Wenn es dagegen um christliche Symbole geht, regt sich kaum jemand auf. Die individuelle Meinungsäußerung gilt fast selbstverständlich als das höhere Gut, dem auch höchste Werte geopfert werden müssen. Damit gibt Europa seine eigene Tradition der Lächerlichmachung preis; oder noch deutlicher: Europa verachtet sich selbst.

Inzwischen ist ein „Stimmungswandel“ gegenüber dem Phänomen Religion und in der Wahrnehmung der Kirchen deutlich. Der Stimmungswandel zeigte sich bei der nicht nur numerischen, sondern auch politischen und medialen Anteilnahme beim Tod des letzten Papstes und bei der Amtseinführung des jetzigen Papstes, beim Weltjugendtag in Köln, dem Bayernbesuch des Papstes u.a. Es gibt vielfältige Zeichen, dass sich etwas bewegt.

Viele fragen wieder, was das Leben orientiert und trägt. Sie suchen nach einer Grundlage, die angesichts der Endlichkeit menschlichen Lebens Bestand hat und den Fragen nach Schuld und Vergebung nicht ausweicht. Freude wie Leid werden ja nicht nur erlebt, sie wollen auch verarbeitet werden. Klage und Dank verlangen nach Sprache, die nicht allein in den Raum des Privaten verbannt werden kann.

Der Umschwung zeigt sich auch auf der philosophischen Bühne. Schon Theodor W. Adorno hat auf die innere Dialektik der Aufklärung und des Fortschritts hingewiesen. Jetzt spricht Jürgen Habermas, der nicht aus der christlichen Denktradition kommt, von einer postsäkularen Situation. Natürlich meint er nicht die Restauration einer vorsäkularen Situation, und natürlich will er an der neuzeitlichen Unterscheidung von Religion und Politik festhalten. Aber er stellt in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels von 2001 fest, dass die Religionen schon rein sprachlich über Potentiale verfügen, welche helfen, Wirklichkeit besser zu verstehen. Man kann sie darum nicht aus dem öffentlichen Disput ausschließen. Es kommen also Gesichtspunkte zur Geltung, die durch eine Art von political correctness lange Zeit tabuisiert waren. Vor allem der Islam zwingt uns, die verdrängten Fragen auf den Tisch des Hauses zu legen.

Schluss

Die europäische Kultur ist auf das Maß des Menschen zugeschnitten. Indem der Mensch seinerseits anerkennt, dass er ein Maß über sich hat, anerkennt er, dass er nicht allmächtig, nicht allgewaltig und allwissend ist. Er verfällt nicht dem Allmachtswahn. Er stellt sich demütig und ehrfürchtig unter das Maß des Göttlichen bzw. Gottes. Die Ehrfurcht vor Gott begründet die Ehrfurcht vor dem Menschen und seiner Würde wie vor dem, was anderen Menschen heilig ist. Sie bewahrt vor Zynismus und Nihilismus. Das ist Kern der europäischen Kultur.

Auch wenn sich Europa der dunklen Seiten seiner Geschichte bewusst sein muss, so hat Europa keinen Grund an sich, seiner Kultur und der ihr eigenen Werte zu zweifeln. Wir müssen nicht dauernd im Büßerhemd herumlaufen und uns an die Brust klopfen. Europa muss vielmehr seine Werte wieder entdecken. Die Erneuerung Europas kommt jedoch nicht von selbst. Man kann sich nicht spießbürgerlich in den Sessel setzen, sich als Zuschauer verhalten und sagen: Nun zeigt mal, was ihr könnt. Ein Weg aus der Krise und eine Erneuerung geht nicht ohne persönlichen Einsatz und persönliches Zeugnis. Europa muss also aufwachen. Europa kann heute neu eine Chance haben. Es liegt an uns sie wahrzunehmen, jeder an seinem Platz.