Europa - eine geistige Herausforderung

Rede im Neuen Schloss in Stuttgart am 11. Mai 2007

Kardinal Walter Kasper

I.

Wenn ich zu Europa spreche, dann tue ich das selbstredend nicht als Politiker, aber auch nicht aus rein akademischem Interesse. Mein Interesse an Europa entspringt meiner persönlichen Lebenserfahrung. Als junger Gymnasiast habe ich die Stunde Null, den totalen Zusammenbruch von 1945 erlebt. 62 Millionen Menschenleben hat der Zweite Weltkrieg weltweit gekostet, riesige Flüchtlingsströme bewegten sich damals durch Europa, unschätzbare Kulturgüter wurden zerstört, nicht nur Deutschland, ganz Europa lag in Trümmern und lag physisch wie moralisch am Boden.

Heutige Jugendliche können sich nicht mehr vorstellen, was es in dieser Situation für mich und viele meiner Altersgenossen bedeutete als Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gaspari, Jean Monnet und andere die Idee eines geeinten Europas formulierten. Sie wollten Europa aus der tiefsten Krise seiner Geschichte herausholen und auf den Ruinen des Zweiten Weltkriegs ein erneuertes geeintes Europa bauen. Sie wollten den Nationalismus, der Europa in den letzten Jahrhunderten in so viele blutige Nationalkriege verstrickt hatte, überwinden und in einem vereinten Europa eine dauerhafte Friedensordnung schaffen. Allein so konnte Deutschland nach der Schmach des Dritten Reiches wieder einen Platz in der Völkergemeinschaft finden. Ich bin noch heute stolz darauf, dass meine aller erste Veröffentlichung, der später viele andere folgen sollten, ein Leserbrief in unserer Lokalzeitung war und dem Europathema galt.

Die Gründerväter Europas waren keine rückwärtsgewandten Romantiker, die von der Wiederherstellung des karolingischen Abendlandes träumten. Sie waren überzeugte Christen. Sie wussten aber, dass die christentümliche Gesellschaft des Mittelalters unwiederbringliche Vergangenheit ist. Sie waren überzeugte Demokraten, welche die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in sich aufgenommen hatten, die nach der menschenverachtenden Tyrannei des Nationalsozialismus und angesichts der damals realen Bedrohung der Freiheit durch den sowjetischen Kommunismus die unveräußerlichen Menschenrechte verteidigten, insbesondere die Religionsfreiheit für die damit die Unterscheidung von Staat und Kirche selbstverständlich war. Sie setzten auf die gemeinsame Verantwortung und auf die ökumenische Zusammenarbeit der Konfessionen. Nachdem Europa so viel Leid über die Welt gebracht hatte, sollte es seiner Verantwortung bewusst sein für den Frieden in der Welt auf der Grundlage von Toleranz, Respekt, Freiheit und Solidarität und nicht zuletzt von Gerechtigkeit bei der Verteilung der Güter dieser Erde, die allen Menschen gemeinsam gehören.

Für uns Junge war diese europäische Idee ein hoffnungsvoller Neuanfang, eine zukunftsweisende Perspektive, eine große Hoffnung. Sie wurde zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte. Aus anfänglich fünf bzw. sechs Staaten sind inzwischen siebenundzwanzig geworden. Niemals zuvor in seiner Geschichte hat Europa eine so lange Friedensepoche erlebt und einen so hohen Lebensstandard für die große Mehrheit seiner Bürger erreicht.

Trotzdem ist etwas schief gegangen: Der Wohlstand weckt nicht Wohlbefinden, sondern Unbehagen. Die Europabegeisterung ist verflogen. Ernüchterung ist eingekehrt. Europamüdigkeit macht sich breit. Dafür gibt es, wie immer, vielerlei Gründe. Europa ist demokratisch unterlegitimiert. Es scheint in die Hände einer undurchsichtigen Bürokratie gefallen zu sein, die mit einer wahren Regelungswut viele den Bürgern unverständliche Vorschriften erlässt. Dagegen scheint vielen die soziale Dimension Europas vernachlässigt. Die Krise beim Verfassungsprozess ist ein Ausdruck dieser inneren Entfremdung und zeigt zugleich das Wiedererstarken der Idee der Nation.

Ein europäischer Verfassungsvertrag, ein Grundgesetz oder wie immer man das am Ende bezeichnen wird ist nach meinen Überzeugung unverzichtbar. Ein solcher Text kann jedoch kein Selbstzweck sein. Er kann nur eine ihm vorgegebene politische Wirklichkeit ausgestalten. Er macht nur Sinn, wenn er von den Menschen innerlich angenommen ist, wenn die Menschen bei aller bleibenden nationalen Vielfalt eine gemeinsame Identität besitzen, wenn sie, ohne aufzuhören Deutsche, Franzosen, Polen u.a. zu sein, sich mit einem gewissen Stolz als Europäer verstehen. Eine florierende Wirtschaft ist dazu wichtig, ja lebenswichtig. Sie ist unverzichtbare Lebensgrundlage, aber sie ist nicht die Lebenserfüllung. Wir brauchen Brot zum Leben, aber wir leben nicht vom Brot allein. Um die Herzen der Menschen zu erreichen braucht es eine begeisternde zündende Idee. Europa braucht eine Vision. Europa ist darum in erster Linie eine geistige Herausforderung. Darüber möchte ich sprechen.

II.

Fragen wir also: Wovon sprechen wir, wenn wir von Europa sprechen? Was ist das Europa? Diese Frage ist nicht so akademisch wie es zunächst scheinen könnte. Sie kommt jedes Mal auf, wenn es darum geht zu entscheiden, welche Länder zu Europa gehören und welche es verdienen in die europäische Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Bei der Frage der Mitgliedschaft der Türkei wird diese Frage wohl zum ersten Mal grundsätzlich diskutiert. Es ist paradox, dass uns die Frage nach der eigenen europäischen Identität heute vom Islam gestellt wird, und wir nicht recht wissen, wie wir darauf antworten sollen.

Die Frage lässt sich nicht rein geographisch entscheiden. Geographisch ist Europa kein klar abgrenzbarer Kontinent wie etwa Afrika, Amerika, Australien. Wo fängt Europa an? Wo hört es auf? Rein geographisch ist das nicht zu sagen. Geographisch ist Europa ein Anhängsel an die Landmassen Asiens, in gewissem Sinn eine Halbinsel Asiens. Europa läßt sich auch nicht ethnisch bestimmen. Ethnisch gehören zu Europa lateinisch-romanische, germanische, slawische, ungarisch-finnische und eine Reihe anderer Völkerschaften, Sprachen und Kulturen, die alle ihre eigene Geschichte und ihre eigene Identität haben. Rein wirtschaftliche Kriterien können die Antwort ebenso wenig sein; denn wenn es allein nach ihnen ginge, müssten ganz andere Länder als etwa Bulgarien in die EU aufgenommen werden.

Von Europa als einer Wertegemeinschaft zu sprechen, ist gewiss richtig. Doch abgesehen von der grundsätzlichen philosophischen Problematik des Wertbegriffs, sind Werte eine abstrakte Sache. Sie allein können die europäische Identität nicht begründen. Was gewöhnlich als europäische Werte bezeichnet wird, gilt mehr oder weniger in allen Ländern der westlichen Welt. So gibt es immer wieder Spannungen und Irritationen zwischen einer europäischen Integrationspolitik und einer transatlantisch ausgerichteten Politik (obwohl beide an sich keineswegs im Widerspruch zueinander stehen). Die westliche Zivilisation reicht sogar weit über den transatlantischen Raum hinaus. Sie reicht von Kanada und den Vereinigten Staaten bis Australien und Neuseeland. Was also ist das Besondere Europas? Was macht die europäische Identität aus? Gibt es sie überhaupt? Wollen wir sie? Und wenn ja, warum wollen wir sie?

Jacques Delors sprach davon, Europa brauche eine Seele. Gewiss. Aber eine Seele kann man nicht suchen und erst recht kann man sie nicht sich selbst einhauchen, eine Seele hat man, oder man ist tot. Es geht also darum, dass Europa seine Seele entdeckt, sie gleichsam reanimiert. Auf die Frage, was Europa ist, gibt es darum nur eine Antwort: Europa ist eine geschichtlich gewordene Größe, Europa ist eine geschichtlich gewachsene Schicksalsgemeinschaft und bildet als solche eine Wertegemeinschaft. Auch die vielen blutigen Konflikte, die sich Europa leider geleistet hat, haben Europa zusammengeschweißt. Die Frage nach der Identität Europas lässt sich also nur geschichtlich beantworten.

Diese Geschichte verläuft in drei großen Etappen:

Der griechisch-römische Humanismus und die griechisch-römische Kultur rund um das Mittelmeer, sie reichte im Norden - das heutige Baden-Württemberg durchschneidend - bis zum Limes, die jüdisch-christliche Überlieferung, und die neuzeitliche Aufklärung. Sie sind nicht mit drei einander ablösenden Phasen, sondern mit drei sich aufeinander legende Jahresringe zu vergleichen. Die christliche Tradition hat das antike Erbe in sich aufgenommen und es weitertradiert. Das war hauptsächlich das Verdienst der Mönche. Denken Sie nur an die Reichenau und die ganze Mönchskultur rund um den Bodensee. Das ist Kernland europäischer Kultur. Die Neuzeit setzte nicht am Nullpunkt an. Sie setzt das christliche Verständnis von der Würde jeder einzelnen Person voraus. Schon vor den Aufklärern haben spanische Theologen in Kritik der spanischen Kolonialpolitik in Lateinamerika und zur Verteidigung der Indios die Idee der Menschenrechte entwickelt. Sie ist in der amerikanischen Verfassung - anders als in Frankreich und vor Frankreich - unter spezifisch christlichem Vorzeichen proklamiert worden.

Inzwischen haben sich alle großen Kirchen das bleibend Gültige der modernen freiheitlichen Ideen zu eigen gemacht. Papst Benedikt hat in seiner Regensburger Rede wie schon zuvor Johannes Paul II. auf der Grundlage des II. Vatikanischen Konzils noch einmal deutlich gemacht, dass Glaube und Vernunft kein Gegensatz sind, sondern sich gegenseitig brauchen, sich gegenseitig gesund halten und befruchten können. Sie sind die zwei Flügel der Seele.

Das europäische Menschenbild und die daraus entspringende europäische Kultur und Lebensart sind also eine vielschichtige sich dynamisch entwickelnde, nie abgeschlossene Synthese verschiedener Elemente, die immer wieder miteinander ringen und angesichts neuer Herausforderungen immer wieder neu nach einem Ausgleich suchen. Dieses Ringen ist heute in eine neue Phase eingetreten. Das macht den Kern der gegenwärtigen Krise und die Schwierigkeit wie das Verheißungsvolle eine Europavision zu formulieren aus.

Viele wollen es nicht wahrhaben, dass Europa auch christliche Wurzeln hat. Man muss jedoch nur einmal von Gibraltar über Spanien, Frankreich, Deutschland bis nach Estland, oder vom alten Konstantinopel über Kiew nach Moskau reisen. Man wird dabei den unterschiedlichsten Völkerschaften begegnen, aber überall wird man als Wahrzeichen das Kreuz finden, überall wird man im Zentrum der alten Städte großartige Kathedralen sehen. Sie finden sich nicht zuletzt in Frankreich, das so sehr auf seine spezifische Form von laicité pocht. Wie kann man die Geschichte Europas verstehen ohne heilige Frauen und Männer wie Martinus, Benedikt, Kyrill und Methodius, Brigitta von Schweden, Elisabeth von Ungarn und Thüringen, ohne Martin Luther und die Reformatoren? Ohne sie wäre das Haus Europa nie aufgebaut worden. Subjektiv man mag sich kritisch oder indifferent dazu verhalten, objektiv kann man die jüdisch-christlichen Wurzeln nur contrafaktisch bestreiten.

Die Geschichte Europas ist freilich nicht nur eine Heliligengeschichte. Es ist auch eine Schuldgeschichte. Europa hat sein großartiges Erbe oft verraten: in den Kreuzzügen, in den Religionskriegen, in denen sich Lutheraner und Katholiken befehdet und Europa im Dreißigjährigen Krieg an den Rand des Ruins gebracht haben, in der Kolonisationsgeschichte, die auch eine Ausbeutungsgeschichte war, in den beiden Weltkriegen und in den beiden menschenverachtenden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, dem Nazismus und dem sowjetischen Kommunismus, in der Shoah, der staatlich geplanten und ins Werk gesetzten Ermordung von 6 Millionen Juden mitten in Europa.

In der Neuzeit hat Europa kulturgeschichtlich einen Sonderweg eingeschlagen. Weder Afrika, noch Asien, noch Lateinamerika, auch nicht die Vereinigten Staaten von Nordamerika, kennen das Ausmaß an Säkularisierung, das wir in Westeuropa finden und sie schütteln darüber zunehmend den Kopf. Die Säkularisierung geht einher mit einen Relativismus, der grundlegendste menschliche Werte zur Disposition stellt, sie mündet in einen Skeptizismus und Indifferentismus, letztlich in einen Nihilismus. Marx ist tot, aber Nietzsche ist zu einem ungemütlichen Zeit- und Hausgenossen geworden. Die Idee der Toleranz dreht sich um und wird intolerant gegen jeden, der noch eine feste Position bezieht, sie wird zur Diktatur des Relativismus. Europa verachtet sich damit selbst. Der Hass und die Verachtung nicht nur der radikalen Muslimen gegenüber dem Westen, ist neben anderem in dieser Unkultur begründet. Auch in den Vereinigten Staaten diskutiert man, ob und wie man sich vor der Ansteckung durch den europäischen Säkularismus schützen kann. Ein neoliberaler Kapitalismus ist freilich ebenso wenig eine tragfähige Basis wie ein sinnentleerter Konsumismus.

Dem setzen wir die Idee Europas entgegen. Es ist die Idee Europas von der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen, die nicht zum Hochmut wird, der meint alles „machen“ zu können, die vielmehr in geschöpflicher Demut um das dem Menschen gesetzte Maß weiß, welche die Heiligkeit des Lebens achtet, die Gleichheit und die Solidarität aller Menschen anerkennt und Ehrfurcht vor der Natur als Gottes Schöpfung hat. Zur Kultur Europas gehört auch die auf die Ehe von Mann und Frau gegründete Familie. Die These, dass die Familie die Grundzelle der Gesellschaft ist, ist für mich nicht nur eine abstrakte Behauptung. Beim totalen Zusammenbruch aller anderen Institutionen 1945 war die Familie die einzige Institution, die hielt und an die man sich halten konnte. Diese europäische Idee widersteht neben dem Hochmut, der meint alles selbstherrlich machen zu können, auch dem Kleinmut, weil sie weiß, dass man mit Großmut sich große Ziele setzen und etwas Großes leisten kann. Selbstverantwortung und Leistung gehören zum europäischen Menschenbild. Statt von den geschichtlichen Wurzeln Europas möchte ich darum lieber von den Flügeln Europas sprechen, von den Flügeln, die Europa hoch gebracht und groß gemacht haben und die es erneut in eine glückliche Zukunft tragen können.

Europa muss aufwachen, vielleicht sogar aufschrecken. Europa muss zu sich selber finden. Es muss im guten Sinn des Wortes wieder selbstbewusst werden, zu sich, zu seiner Geschichte und seiner Kultur und zu der darin begründeten Lebensart stehen. Es muss seine Seele wieder entdecken. Wenn dies geschieht, dann hat, wie der bekannte amerikanische Weltökonom Jeremy Riffkin zeigte, der europäische Traum nach wie vor eine reale Zukunftschance. Zu Defätismus ist dann kein Grund. Im Gegenteil, Europa hat, wenn es sich seiner selbst bewusst ist, seine Zukunft ganz neu vor sich.

III.

Die Geschichte bewegt sich nach dem großen Historiker A. J. Toynbee nach dem Schema challenge and response, Herausforderung und Antwort. Ich möchte ohne Anspruch auf Vollständigkeit vier solcher Herausforderungen nennen, vor denen Europa heute steht, vor denen es sich zu bewähren hat, an denen es neu seine künftige Gestalt und Sendung finden kann.

Die erste Herausforderung: Europa darf seine Geschichte nicht vergessen; Europa muss seine Geschichte wach halten. Europa braucht eine neue Erinnerungskultur. Die gegenwärtige Malaise Europas ist seine Geschichtsvergessenheit, die nur partielle, oft ideologisch gesteuerte Wahrnehmung seiner Geschichte oder gar die bare Unkenntnis seiner Geschichte. Wir müssen uns von unserer Geschichte neu herausfordern lassen.

Erinnerung ist - wie man seit Platon und Augustinus und dann wieder seit Hegel weiß - Vehikel und Organ aller Welterkenntnis und Weltorientierung. Ohne Wissen um die eigene Herkunft gibt es keine Zukunft. Wer nicht weiß woher er kommt, weiß auch nicht wo er augenblicklich steht und wohin er gehen soll. Ohne Erinnerung sind wir nach Nietzsche wie das Vieh an den Pflock des Augenblicks gebunden, ohne Perspektive und ohne Zukunft. Wir müssen darum die europäische Vision und die europäische Seele in unserer Geschichte entdecken.

Natürlich geht es nicht um eine die Kinder- und Jugendzeit romantisch verklärende Alterserinnerung. Wir wollen die negativen Aspekte, etwa die Shoah nicht verdrängen. Sie muss uns eine bleibende Warnung sein. Genau so wenig können wir die Vergangenheit nur noch als Kriminalgeschichte wahrnehmen. Das letztere kommt mir vor, wie wenn man mit dem Müllwagen durch Stuttgart oder Rom fährt und dabei nur auf die Ansammlungen von Unrat achtet, dann freilich um ihn wegzuräumen. Doch hat man dann Stuttgart oder Rom gesehen? Kaum. Gerade in der Erinnerung an Leidens- und Unrechtsgeschichte entdeckt man unabgegoltene vielleicht sogar unterdrückte Möglichkeiten, Potenziale und Ideale, welche uns vom Bann augenblicklicher modischer Plausibilitäten befreien und einen kritischen wie produktiven Blick auf die Gegenwart erlauben.

Etwas einfacher gesagt: Wir brauchen Vorbilder. Dabei müssen die großen Zeugen und Märtyrer des 20. Jahrhunderts genannt werden. Sie standen für europäische Werte. Sie können uns Wegweiser für die Zukunft Europas im 21. Jahrhundert sein. Sie finden sich in allen Kirchen und in allen Lagern. An solchen Gestalten können wir uns orientieren und aufrichten. Dann kann Europa Zukunft haben.
Jürgen Habermas, der selbst nicht aus einer religiösen Tradition kommt, hat gesehen, dass die Religionen über ein Potenzial verfügen, das einem rein säkularen Denken abgeht, das man aber rational fruchtbar machen kann. In diesem Zusammenhang muss man die Frage der Erwähnung der antiken, jüdisch-christlichen und neuzeitlichen Wurzeln Europas und die Frage der Anrufung Gottes in der Verfassung sehen. Die Anrufung Gottes hat nicht den Sinn, alle Bürger auf das spezifisch christliche Gottesbild zu verpflichten, sie soll vielmehr gegen totalitäre Zumutungen daran erinnern, dass wir als Menschen unter einem Maß stehen, das nicht zur Disposition steht. Die Anerkennung Gottes bedeutet die Anerkennung, dass wir nur Menschen sind und keine „Herrgötter“. Sie ist das Menschlichste überhaupt und Grundlage einer wahrhaft menschlichen Kultur.

Wie jedes Staatswesen so lebt auch Europa von vorpolitischen Maßstäben, die wir anzuerkennen haben (W. Böckenförde). Man soll darum bei aller heute selbstverständlichen Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Ordnung die Orientierung und Maßstäbe vermittelnde Kraft der Religion nicht unterschätzen. Europa braucht sie. Europa braucht mutige und mündige Christen, die sich nicht wegducken, die vielmehr den antiken wie den jüdisch-christlichen Humanismus wach halten und die Errungenschaften der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte gegen die Gefahr einer Zerstörung durch sich selbst verteidigen. Das sind die Grundmauern, auf denen das europäische Haus stabil und wetterfest aufgebaut werden kann.

Die zweite Herausforderung: Europa steht heute angesichts der Globalisierungsprozesse vor neuen Herausforderungen. Es muss ein weltoffenes, gastfreundliches Haus sein. Gastfreundschaft ist eine alte und eine hohe jüdisch-christliche Tugend. Sie zeichnete schon den Patriarchen Abraham aus und, einer der Gründerväter Europas, Benedikt von Nursia, hat sie uns ins europäische Stammbuch geschrieben. Heute ist die Welt wie nie zuvor bei uns zu Gast, zunächst in Gestalt der Gastarbeiter, die wir selber ins Land geholt haben, jetzt in Form der weltweiten weitgehend armuts- und verfolgungsbedingten Migration, eine neue Art der Völkerwanderung, die zu den „Zeichen unserer Zeit“ gehört und von der man sich ebenso wenig ganz abschotten kann wie bei Überschwemmungen vom einbrechenden Wasser.

Europa hat christliche Wurzeln, aber Europa ist kein christlicher Club. Fremdenfeindlichkeit ist eine Karikatur europäischer Identität. Wir wollen keinen „Zusammenstoß der Kulturen“ (S. Huntington), sondern einen friedlichen Dialog der Kulturen und der Religionen, in dem wir die anderen in ihrer Andersheit annehmen und uns dadurch selbst bereichern. Ohne solchen Religionsfrieden kann es keinen Weltfrieden geben (H. Küng).

Im Verhältnis zum Judentum haben wir nach der Katastrophe der Shoah diese Lektion hoffentlich gelernt, auch wenn man wachsam sein muss, da der Antisemitismus immer wieder sein hässliches Haupt erhebt. Wesentlich schwieriger ist die Frage im Verhältnis zum Islam. Der gehört nicht wie das Judentum zu den Grundlagen des Christentums. Er ist eine nachchristliche Religion, die den Anspruch erhebt, das Christentum zu korrigieren und zu überbieten mit einer ambivalenten Einstellung zur Gewalt. Dabei ist der Islam nicht nur eine andere Religion. Er ist auch eine andere Kultur, die bislang den Anschluss an unsere moderne westliche Kultur, zu der auch die Gleichstellung von Mann und Frau gehört, nicht geschafft hat. Dies kann, wenn es denn gewollt wird, nicht in wenigen Jahren, auch nicht in wenigen Jahrzehnten, sondern nur in einem sehr langfristigen Prozess geschehen.

Auch wenn man den Islam vom fanatischen Islamismus unterscheidet, darf man also nicht blauäugig sein und aus einem naiven Harmoniestreben das Konfliktpotenzial unterschätzen. Wegschauen hilft nicht. Wir müssen die Herausforderung annehmen. Wir müssen freilich alles uns Mögliche tun, damit wir die Herausforderung mit friedlichen Mitteln austragen und die bei uns lebenden Muslime integrieren. Wir wollen darum den Dialog mit dem gemäßigten Islam. Das setzt von unserer Seite Toleranz und Respekt voraus, aber auch Toleranz und Respekt der Muslime gegenüber unserer Kultur und unseren Überzeugungen. Gegenüber Intoleranz kann es keine Toleranz geben. Jede Gesellschaft braucht ein gewisses Maß gemeinsamer Werte und Regeln, um friedlich zusammenleben zu können. Multikulti, d.h. ein Nebeneinander von Parallelgesellschaften ist europaweit gescheitert. Der Dialog setzt darüber hinaus Partner voraus, die ihre jeweilige Identität und ihr jeweils eigenes Profil haben. Nur dann ist ein wirklicher Austausch und ein friedliches Zusammenleben möglich.

Es ist darum kein Dialog, sondern charakterlose Selbstverleugnung, wenn wir in vorauseilendem Gehorsam einknicken und kapitulieren, wenn wir unsere Überzeugungen und Werte verstecken, Kreuze abhängen, auf Weihnachtsfeiern verzichten (wo doch auch der Koran eine Weihnachtsgeschichte kennt!) bis hin zu dem Schwachsinn, keine Sparschweine mehr auszugeben. Mit solcher Appeasement-Politik werden wir nicht Respekt, sondern zurecht Verachtung ernten. Nur wer Selbstachtung besitzt, kann auch andere achten.

Dritte Herausforderung: Europa und Ökumene gehören zusammen. Wenn man ein Haus, auch das europäische Haus, neu einrichtet, dann muss man gelegentlich trennende Wände abtragen um Platz für einen für alle bestimmten größeren Wohnraum zu bekommen. Das gilt für die östliche wie für die westliche Kirchenspaltung. Beide haben Europa in der Vergangenheit in blutige Konflikte gestürzt. Die konfessionellen Gegensätze waren mitentscheidend für die Teilung Europas. Heute sind die Kirchen dabei wieder zusammenzurücken. Sie verstehen sich wie am Anfang als das europäische Haus gebaut wurde, als geistigen Kitt und als Friedensstifter zwischen den europäischen Völkern.

Europa muss lernen, wieder mit beiden Lungenflügeln zu atmen und Ost- und Westeuropa integrieren. Die Entfremdung beider war ein langer Prozess, der schon im ersten Jahrtausend mit der Trennung von West- und Ostrom begann, im zweiten Jahrtausend zu einem zunehmenden Auseinanderleben führte, durch 500 Jahre Türkenherrschaft und durch 80- bzw. 40-jährige kommunistische Unterjochung verstärkt wurde. In dieser langen Geschichte haben sich auf beiden Seiten Vorurteile und Missverständnisse in den Herzen eingegraben. Seit dem Fall der Berliner Mauer haben wir die einmalige geschichtliche Chance, dass wieder zusammenwächst, was zusammen gehört. Kulturell können wir davon nur gewinnen.

Das ist nicht nur eine politische und wirtschaftliche Herausforderung. Die Herausforderung ist auch kultureller Art. Es sind unterschiedliche Mentalitäten und Kulturen entstanden, die jeweils unterschiedliche religiöse Prägung besitzen, die nur durch einen Austausch der Kulturen überwunden werden können. In diesem Zusammenhang muss man die ökumenischen Bemühungen um die Ostkirchen würdigen. Dabei führen wir nicht nur theologische Gespräche, es gibt auch Besuchsprogramme, Stipendienprogramme, Foren, Symposien, Förderung von Übersetzungen u.a. Letztlich gelingt Ökumene nur, wenn es gelingt Bande der Freundschaft zu knüpfen.

Die Ökumene mit dem Osten ist nicht - wie hierzulande manche befürchten - eine Alternative zur westlichen Ökumene zwischen der katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen. Wenn Zeit wäre, könnte ich leicht aufzeigen, wie beides zusammenhängt. In diesem Zusammenhang möchte ich nur grundsätzlich betonen: Ökumene ist ein Beitrag zur Einheit Europas. Unsere ökumenischen Versöhnungsprozesse können ein ermutigendes und ansteckendes Beispiel dafür sein, dass auch nach einer Geschichte, die wahrlich nicht nur von christlicher Nächstenliebe geprägt war, Versöhnung möglich ist. Ein Scheitern der Ökumene könnten wir weder vor Gott noch vor der Geschichte verantworten. Zur Ökumene gibt es keine verantwortliche Alternative. Sie ist eine unwiderrufliche Option der katholischen Kirche.

Schließlich die vierte Herausforderung: Mit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs war die Zeit des Eurozentrismus unwiederbringlich vorbei. Der Niedergang Europas führte zum Ende des Kolonialismus, zum Aufkommen anderer Großmächte und aller Voraussicht nach noch in unserem Jahrhundert zum Aufstieg Asiens. Wenn Europa in Zukunft noch etwas ausrichten will, dann nur als vereintes Europa. Ein Rückfall in ein reines Nationalstaatsdenken wäre verhängnisvoll. Auch ein vereintes Europa kann sich nicht zurückziehen. Europa kann keine Insel der Seligen sein. Europa hat - grundgelegt bei den Griechen und vor allem bereits auf der ersten Seite der Bibel, wo gesagt ist, dass alle Menschen gleichermaßen nach dem Bild Gottes geschaffen sind - die Idee der allgemeinen Menschenrechte entwickelt. Sie sind ein Fortschritt im Menschheitsbewusstsein; sie sind unteilbar und gelten universal.

Es könnte die neue Herausforderung Europas sein, dieses sein Erbe als Grundlage einer universalen Friedensordnung weiterzutradieren und es gegen Hegemonieansprüche aller Art zu verteidigen, die dieses abschätzig als partikuläre Tradition von „Menschrechtsspießern“ eines „alten Europa“ abtun wollen. Das könnte Europas wichtigster künftiger Beitrag zum Weltfrieden sein. Wir brauchen eine Globalisierung nicht nur der Wirtschafts- und Finanzmärkte, sondern vor allem eine Globalisierung der Menschenrechte und der Solidarität.

Universale Menschenechte implizieren eine universale Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Europa muss darum Verantwortung übernehmen für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit in der Welt, so dass die Menschen nicht aus Verzweiflung nach Europa drängen, sondern in ihrer angestammten Heimat eine Zukunftsperspektive haben. Aufgrund seines Menschenbildes muss Europa eintreten für eine neue Kultur des Teilens und der Solidarität wie der Achtung vor der Umwelt als Lebenswelt des Menschen. Für viele Krisengebiete der Erde kann Europa ein Modell dafür sein, dass man auch nach einer komplexen und schwierigen Geschichte die Hand zu Versöhnung ausstrecken und sie ergreifen kann.

Lassen Sie mich schließen. Die europäische Erfolgsgeschichte ist noch nicht zu Ende. Sie fängt heute ganz neu an. Europa hat noch eine Sendung. Wir müssen den Mut und die Kraft haben, uns nicht wegzuducken, sondern den neuen Herausforderungen ins Auge zu sehen und sie mutig anzupacken. In diesem Sinn möchte ich die Europa-Begeisterung, die mich als junger Gymnasiast erfasst hat, nicht begraben. Ich möchte sie als geistige Herausforderung begreifen und an die Großmut, d.h. an den Mut zu Großem und an das Selbstvertrauen appellieren, die europäische Idee, die menschliche Größe mit menschlichem Maß, die Freiheit mit Verantwortung und Solidarität verbindet, aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Diese Idee hat Europa groß gemacht. Sie hat noch längst nicht ausgedient. Sie ist Europas Beitrag zur Kultur und zum Frieden in der Welt. Wir müssen sie nur zuerst selbst wieder entdecken und leben. Das ist die eigentliche, die geistige Herausforderung.