Kirche im Umbruch – Kirche wohin?

Traditioneller Priestertag im Kolpinghaus, 13.06.2012


1. Konkrete Kirchenerfahrungen

Kirche wohin? So fragen gegenwärtig viele Menschen, auch viele katholische Christen. Sie stellen diese Frage mit besorgtem Herzen. Denn es geht um ihre Kirche, um die Kirche, in der sie aufgewachsen sind und zu Hause waren, die ihnen oft in schwieriger Zeit Halt und Heimat war und es noch ist. Sie spüren, dass etwas weg bricht, wenn etwa kein Priester mehr am Ort ist, Pfarreien zusammengelegt werden, Kirchen, Klöster und kirchliche Einrichtungen geschlossen werden. Sie erleben in der eigenen Familie, dass sie das, was ihnen selbst wichtig und wertvoll war und ist, oft nicht mehr an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben können und dass sie Schwierigkeiten haben, den Glauben an die nachwachsende junge Generation „rüberzubringen“. Sie sehen die vielen, die suchen und fragen und die doch keinen Zugang finden zum Glauben der Kirche. Sie fragen: Wie geht es weiter? Kirche wohin?
Die Krise ist vielschichtig (1). Da sind persönliche negative Erfahrungen, von denen jeder erzählen kann, da sind vor allem die die beschämenden Missbrauchsgeschichten, die uns so viel Vertrauen gekostet haben. Da sind die unguten Polarisationen in der Kirche in öffentlichen Erklärungen, die regelmäßig zu Gegenerklärungen führen. Da sind Zeichen eines epochalen Umbruchs, welche die Frage „Kirche wohin?“ stellen.
Wollen wir auf diese Fragen eine Antwort versuchen, dann müssen wir uns daran erinnern, dass es in diesem Jahr 50 Jahre her ist, dass Papst Johannes XXIII. am 11. Oktober 1962 das II. Vatikanische Konzil eröffnet und dabei eine als prophetisch zu bezeichnende Zukunftsvision dargelegt hat. Erst jüngst hat Papst Benedikt XVI. wie schon zuvor Papst Johannes Paul II. das Konzil als Kompass für den Weg der Kirche ins neue Jahrhundert und Jahrtausend bezeichnet.
Da ich inzwischen zu den Älteren zähle, erinnere ich mich noch gut an den Abend des 25. Januar 1959, da ich als damals junger Priester zusammen mit Freunden am Radio (Fernsehen gab es noch nicht) die Nachrichten hörte und wir unseren Ohren kaum trauten, als wir hörten, dass Papst Johannes XXIII. in St. Paul vor den Mauern in Rom ankündigte, das kanonische Recht zu revidieren und ein allgemeines Konzil einzuberufen. Das war Überraschung pur. Auch die Kardinäle, die bei der Ankündigung dabei standen und sie als erste hörten, waren sprachlos. Niemand hatte das erwartet.
Oder doch? Ich war nach dem Zweiten Weltkrieg in die damalige Nachblüte der Jugendbewegung geraten, lernte die liturgische Bewegung und die Bibelbewegung kennen, vertiefte mich in die Schriften von Romano Guardini, hatte später in Tübingen auch erste ökumenischen Kontakte. Irgendwie in unseren Herzen vergraben war die Erwartung und Sehnsucht nach etwas Neuem. Es war auch die Kennedy-Zeit mit der Proklamation der Neuen Grenzen. Kurzum, es war das Gefühl des Anbruchs einer neuen Zeit, das wir als junge Menschen aber nicht formulieren konnten.
Nun war es, wie wenn eine bisher versteckte und verdeckte und verstopfte Quelle plötzlich aufbricht; es sprudelte nur so. Als dann der Papst bei der förmlichen Einberufung des Konzil am 25. Dezember 1961 von der Hoffnung auf ein erneuertes Pfingsten sprach, da schossen die Erwartungen und Hoffnungen nur so in die Höhe. Die Begeisterung, die damals herrschte, können Jüngere kaum mehr nachvollziehen. Viele Erwartungen waren, im Nachhinein betrachtet, unrealistisch und mussten enttäuscht werden. Aber das Konzil hat dann doch vieles gebracht, was uns heute selbstverständlich erscheint, damals aber als Durchbruch empfunden wurde: Die Erneuerungen in der Liturgie mit der aktiven Beteiligung der Gemeinde, die biblisch erneuerte Spiritualität, die neuen geistlichen Bewegungen, die Fortschritte in der Ökumene und vieles andere.
So empfanden wir das Konzil nicht als einen Bruch; es war für uns vielmehr die Erfüllung von unausgesprochenen Sehnsüchten, die wir schon länger in den Herzen trugen. So hat mich die Erfahrung des Konzils bleibend geprägt; das Konzil wurde für mich zum festen Bezugspunkt meiner Theologie.
Inzwischen hat sich die Stimmung zumindest bei uns um 180° gedreht. Von einem erneuerten Pfingsten mag heute kaum mehr jemand sprechen. Im Gegenteil, heute, 50 Jahre später, ist bei uns in Deutschland und in Westeuropa von Niedergang und Krise der Kirche die Rede. Dafür gibt es Gründe, auf die ich gleich eingehen werde. Aber wir müssen auch über unseren deutschen und west-europäischen Tellerrand hinausschauen. Dabei sehen wir, dass in anderen Teilen der Weltkirche, ja in deren weit größerem Teil eine ganz andere und viel positivere Bilanz ergib.
Nur einige wenige Beispiele: In Hongkong sind an Ostern 3.500 Erwachsene getauft worden, in China waren es 22.000. In Südkorea, das man jüngst als Tigerstaat der Kirche bezeichnet hat, zählt jede Pfarrei jährlich 200-400 Neutaufen; die Katechumenen werden von Laien als freiwillige Katechisten vorbereitet. Allein in Hongkong waren es dieses Jahr 1500. In Korea ist die Zahl der Priester innerhalb von 50 Jahren von 250 auf 5000 gestiegen. In Afrika ist die Zahl der Katholiken im letzten Jahrhundert von 2 Millionen auf 130 Millionen gewachsen. Weltweit betrachtet kann also von einem Abschwung der Kirche keine Rede sein. In den anderen Erdteilen und teilweise auch in Europa ist die Kirche im Aufwind, dort ist sie jung und lebendig und schaut optimistisch in die Zukunft.
Mit der Rede von der Krise der Kirche muss man also vorsichtig sein. Im übrigen hat es in der Geschichte der Kirche schon ganz andere Krisen gegeben, aus denen die Kirche jeweils gestärkt hervorgegangen ist. Ich selbst habe solche Krisensituationen erlebt. Ich bin vor dem Zweiten Weltkrieg in der Nazizeit und während dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen. Der Bischof unserer Diözese war von den Nazis vertrieben, im Konzentrationslager in Dachau war ein großer Priesterblock (allein 2579 katholische Geistliche), nach dem Krieg lagen viele Kirchen in Trümmern. Später habe ich Vorlesungen und Vorträge in der DDR, in damaligen Ostblockstaaten, Untergrundvorlesungen in Prag gehalten. Als Bischof habe ich verfolgte Kirchen in Myanmar, im Süd-Sudan, in China besucht, bin Elendssituation in Slums und Favelas begegnet und habe dabei trotzdem viel Hoffnung, Zuversicht und Glaubensfreude gefunden. Ich selbst bin von solchen Erfahrungen immer im Glauben gestärkt nach Hause zurückgekehrt. Die Kirche wächst nicht trotz Krisen, sondern in Krisen.
Schauen wir von da auf Deutschland zurück, dann müssen wir sagen: Wir in Deutschland sind eine freie Kirche in einem freien Staat. Die Kirche war in ihrer ganzen Geschichte noch nie so frei wie heute. Sie war wohl auch noch nie so gut situiert, weit besser als alle anderen Ortskirchen in der Welt. Was nur ist los bei uns?
Wenn man auf die gegenwärtige Situation in Deutschland schaut, dann fallen vor allem negative Schlagzeilen auf: In den vergangenen Jahren stand an erster Stelle der Missbrauchsskandal, der uns tief erschüttert und beschämt hat; er hatte nicht nur überdurchschnittlich viele Kirchenaustritte zur Folge, sondern – was weit gravierender ist – einen riesigen Vertrauensverlust, und verlorenes Vertrauen ist sehr schwer und nicht von heute auf morgen wieder aufzubauen. Ein zweites Stichwort: Schrumpfende Kirchenbesucherzahlen. Zu meiner Studienzeit lag die Kirchenbesucherzahl im Jahr 1950 in der alten Bundesrepublik bei etwas über 50%, heute liegt sie bei durchschnittlich etwa 12 %, Tendenz fallend.
Wenn man zusätzlich feststellt, dass die große Mehrzahl der Kirchenbesucher über 60 Jahre alt ist, dann ist das eine Zeitbombe. Zum Gemeindemangel kommt der Mangel an Priester- und Ordensberufungen und die verständlicher Weise viele bewegende Frage, wie es mit unseren Gemeinden denn weitergehen soll. So gibt es ein unüberhörbares Murren im Volke Gottes und die Forderung nach mehr Mitsprache oder wenigstens nach mehr Gehör.
Ich könnte diese Problem- und Mängelliste leicht fortsetzen. Aber es gibt auch, und das wollen wir nicht vergessen, viele positive Zeichen, etwa die große Zahl ehrenamtlicher Mitarbeiter/innen, die sich tagtäglich in den Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen engagieren, die ungebrochene Spendenbereitschaft auch in Zeiten wirtschaftlicher Krise, nicht zuletzt viele stille Beter und vieles andere mehr. Jeder dieser negativen wie positiven Punkte verdiente eine ausführliche Diskussion, die in einem einzigen Vortrag nicht zu leisten ist. Auf einiges möchte ich nachher im größerem Zusammenhang zurückzukommen sein.

2. Epochaler Umbruch

Zunächst müssen wir in der Analyse noch etwas tiefer schürfen. Die These, von der ich ausgehen möchte, lautet: In allen genannten und vielen anderen Phänomenen zeigt sich, dass die Kirche in Deutschland und Europa (darauf möchte ich mich beschränken) in einem epochalen Wandel steht. Die genannten Krisenphänomene sind Zeichen einer tieferen Krise. Was wir gegenwärtig erleben ist das Zu-Ende-gehen einer Epoche der Kirchengeschichte. Man kann diese Situation bis zu einem gewissen Grade vergleichen mit dem Ende der alten Reichskirche in den napoleonischen Kriegen, der Säkularisation (1803) und dem Wiener Kongress (1814/15). Damals kam es zur Säkularisierung des Kirchengutes und damit zum Ende der feudalen Reichkirche. Das wurde als Unrecht empfunden, und war es auch; es war der Zusammenbruch des gesamten damaligen Kirchensystems, der Verlust politischer wie wirtschaftlicher Macht, was in manchen Gebieten zu einer materiellen wie kulturellen Verarmung führte.
Es war ein schmerzlicher Umbruch, der aber zu einem neuen Anfang und zu einem Aufbruch zu einer neuen Gestalt der Kirche wurde, nämlich zu der Volkskirche, wie die Älteren von uns sie bis 1933 und dann in einer kurzen Phase nach dem Zweiten Weltkrieg kannten. Die Kirche hatte ihre politische und wirtschaftliche Macht verloren, sie hatte dafür aber moralische Autorität gewonnen. Dies war dadurch möglich, dass sie sich auf ein konsistentes katholisches Milieu und auf bedeutende Laienverbände abstützen konnte; aus der feudalen Reichkirche war eine milieugestützte Volkskirche geworden. Sie war sozusagen der Fels, an den man sich in der Brandung der beiden totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts halten konnte. Gewiss, es gab damals – wie immer – Außenseiter, aber das katholische Milieu stand. Wir sollten diese volkskirchliche Gestalt der Kirche deshalb nicht kleinreden. Sie war geistliche Heimat; man fühlte sich in der Kirche zu Hause.
Diese volkskirchliche Gestalt geht in der heutigen pluralistischen Situation zu Ende (2). Das katholische Milieu gibt es heute nur noch in auslaufenden Restformen. Dort, wo sie noch besteht, soll man es nicht zerstören oder herabsetzen, auch Folklore kann eine wichtige identitätsstiftende Bedeutung haben. Aber man muss sich darüber im Klaren sein: Die bisherige volkskirchliche Gestalt der Kirche ist nicht das zukunftsweisende Modell der Kirche im 21. Jahrhundert. Es kommt etwas Neues. Aller Abschied ist schwer, und Abschied bedeutet immer auch Verlust; alles Neue dagegen entsteht unter Geburtsschmerzen. Die erfahren wir heute. Hoffnungslos ist ein Abschied aber nur, wenn ihm kein neuer Anfang und kein Aufbruch zu neuen Ufern folgt. Was uns in dieser Situation leider fehlt, ist, dass es so wenig konkrete und zugleich realistische Zukunftsvision gibt; wir können das Neue bisher höchstens in ersten Umrissen wahrnehmen.
Es ist absehbar, dass die Kirche, und zwar beide großen Kirchen in Deutschland, innerhalb unserer stärker pluralistisch werdenden Gesellschaft zu großen Minderheiten werden. Man kann deshalb realistischer Weise gar nicht damit rechnen, dass alles so bleibt, wie es unter volkskirchlichen Voraussetzungen geworden ist. Das gilt auch beim geschichtlich gewachsenen Pfarreisystem. Die Kirche geht einer neuen Art von Diasporasituation entgegen. Diasporasituation neuer Art deshalb, weil Diaspora bisheriger Art meinte, dass eine kleine katholische Minderheit in einem mehrheitlich evangelischen Umfeld lebte oder umgekehrt; die neue Diaspora bedeutet, dass evangelische und katholische Christen zusammen genommen teilweise schon heute und in Zukunft wohl noch mehr in einer mehrheitlich pluralistischen, christlich indifferenten, teilweise aber auch feindselig eingestellten Umwelt leben.
Das bedeutet nicht, einer Pastoral der kleinen Herde oder der Ideologie des Gesundschrumpfens das Wort zu reden. Schrumpfen ist nie gesund. Gesundschrumpfen als Programm wäre das Gegenteil einer missionarischen Kirche, die sich heute zur Neuevangelisierung aufmacht. Wir geben niemand auf, wir wollen so viele wie möglich gewinnen, sogar so viele wie möglich neu dazu gewinnen, und jeder einzelne, der weggeht, ist einer zu viel. Dennoch müssen wir aber realistischer Weise damit rechnen, dass die Kirche in Europa einer neuen Art von Diasporasituation entgegengeht. Als Christen müssen wir diese nach menschlichem Ermessen auf uns zukommende Wirklichkeit im Vertrauen auf Gottes Vorsehung realistisch als Herausforderung annehmen.
Diese neue Situation ist kein Grund zur Panik. Wer die Geschichte der Menschheit studiert, der wird bei dem großen Historiker Arnold J. Toynbee in seinem Opus magnum „Study of History“ finden, dass es in schwierigen Situationen der Menschheitsgeschichte immer qualifizierte kreative Minderheiten waren, die einen Ausweg gefunden haben, dem sich die Mehrheit dann anschließen konnte.
In der Kirchengeschichte war es nicht anders. Erneuerungen sind nie von Massenversammlungen ausgegangen, sondern jeweils von kleinen Gruppen. Am Anfang waren es nur Zwölf und dazu ein paar mutige Frauen. Dass auch kleine, aber wache und engagierte Minderheiten einen enormen kulturellen Einfluss haben können, zeigt nicht zuletzt die Bedeutung, die das Judentum vor 1933 in Deutschland hatte. Es waren nur ca. 500.000 Juden im damaligen Reich, nicht einmal 1% der Bevölkerung, aber ihr kultureller Einfluss war groß. Nicht Quantität, sondern Qualität ist für die Identität entscheidend. Wenn wir nur wissen, wer wir sind und was wir wollen, wenn wir vor allem von unserer eigenen „Sache“ überzeugt sind und zu ihr stehen, wenn wir also qualifizierte und kreative Minderheit sind, dann ist nicht Zukunftsangst, sondern Hoffnung angesagt.
Manche suchen die Flucht zurück in die vermeintlich gute alte Zeit anzutreten. Sie haben recht, wenn sie sagen, dass es Formen der Volksfrömmigkeit gibt, die es wert sind, nicht nur bewahrt, sondern auch erneuert zu werden. So sind etwa Wallfahrten – siehe die Wallfahrt zum Hl. Rock in Trier – wieder attraktiv und modern geworden. Wir werden also bei dem Weg nach vorne nicht alles Bisherige aufgeben, sondern Wertvolles mitzunehmen haben. Darum können wir auch nicht einfach die Flucht nach vorne ergreifen, im Sturm vermeintlichen Ballast über Bord werfen, wodurch das leichter gewordene Boot erst recht wie eine Nussschale von den Wellen der rasch wechselnden Moden hin und her geworfen wird. Das wäre nicht Krisenbewältigung, sondern Krisenbeschleunigung.
Das schließt nicht aus, dass wir Erneuerung und auch Reform brauchen. Im Sinn des Konzils ist die Kirche eine ecclesia semper purificanda und eine ecclesia semper renovanda (3). Sie ist in allen Jahrhunderten dieselbe Kirche Jesu Christi. Sie steht auf dem ein für alle Mal gelegten apostolischen Fundament. Es kann darum heute keine neue Kirche geben, wohl aber eine aus ihren Ursprüngen und Wurzeln erneuerte Kirche.

3. Erneuerung im Horizont der Gottesfrage

Wir sind ausgegangen von konkreten Krisenphänomenen und sind dann auf die Krise im Sinn einer epochalen Übergangssituation hin zu einer neuen Epoche der konkreten Gestalt der Kirche zu sprechen gekommen. Beides waren binnenkirchliche Gesichtspunkte, und die meisten Reformvorschläge gehen leider allein von einer solchen binnenkirchlichen Perspektive aus. Die Dramatik wird jedoch erst dann voll deutlich, wenn wir die Fenster und Türen aufmachen und die kirchlichen Probleme im kulturellen Gesamtkontext betrachten. Die Grundfrage, vor der wir stehen, ist die Gottesfrage. Das haben jüngste Ergebnisse der Universität von Chicago nochmals gezeigt.
Im Anschluss an Johann Baptist Metz habe ich von einer Gotteskrise gesprochen. Das ist ein missverständliches Wort. Selbstverständlich ist nicht Gott in der Krise; vielmehr sind wir in der Krise, weil wir die Wirklichkeit Gottes verdrängt, vergessen und verdunkelt haben, und weil auch wir Christen das Antlitz Gottes oft entstellt haben. Die Mitschuld der Christen an der entstandenen Situation, die man meist als Säkularisierung beschreibt, wird deutlich, wenn man sieht, dass die Säkularisierung eine ihrer Wurzeln in der Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert hat. In den Religionskriegen des 16./17. Jahrhunderts, die im 30jährigen Krieg Europa an den Rand des Ruins gebracht haben, wurde deutlich, dass die Religion nicht mehr das verbindende Band ist, sondern Grund (oft freilich auch Vorwand) blutiger Auseinandersetzungen; um des Überlebens der Gesellschaft willen war es notwendig, die Religion aus dem öffentlichen Raum zu verbannen und zur Privatsache zu erklären.
Säkularisierung meint also nicht die atheistische Negation Gottes beziehungsweise des Gottesglaubens, sondern dessen Marginalisierung, konkret die Privatisierung des Gottesglaubens und seine Verdrängung aus dem öffentlichen Raum. C. Taylor beschreibt in seinem Standardwerk „A Secular Age“ (2007) die Situation so: Während für die gesamte Menschheits- und Kulturgeschichte der Glaube an eine transzendente Wirklichkeit, bei uns: der Glaube an den persönlichen Gott, selbstverständlich war und jeder als Außenseiter galt, der das bestritten hat, ist es heute sehr oft genau umgekehrt; der seinen Glauben öffentlich bekennt gilt als Außenseiter. Das ist ein Novum der letzten zwei/dreihundert Jahre, weil uns menschheits-kulturgeschichtlich keine Kultur bekannt ist ohne eine wie immer geartete transzendente Fundierung und Legitimierung.
Wenn Gott, die alles bestimmende Wirklichkeit, als Fundierung und Legitimierung entfällt, dann verändert sich im Grunde alles. Dostojewski hat gesagt, wenn Gott nicht ist, dann ist alles erlaubt. Das heißt nicht, dass alle die Neu-Heiden unmoralische Menschen wären; sie sind in ihrer großen Mehrheit anständige Menschen, wie wir alle es zu sein versuchen. Aber ohne Gott entfällt die letzte und absolute Legitimation; es wird dann alles mehr oder weniger relativ. Max Horkheimer hat darum gesagt: Einen absoluten Sinn ohne Gott zu retten ist eitel.
Diese Situation ist nicht hoffnungslos. Es gibt auch eine wachsende Zahl von frommen Atheisten, besser von nachdenklichen Agnostikern. Sie haben weder die Selbstgewissheit der Theisten noch die der Atheisten. Es sind Menschen, die fragen und suchen, Menschen unterwegs. Sie spüren, dass mit dem Ausfall des Gottesglaubens und des christlichen Glaubens etwas fehlt. „Ein Bewusstsein von etwas, das fehlt“, hat Jürgen Habermas es genannt. Er lädt deshalb etwa in seinem Disput, den er am 19. Januar 2004 in der Münchner Akademie mit dem damaligen Kardinal Ratzinger hatte, dazu ein, die Botschaft des Evangeliums rational zu entschlüsseln, weil wir angesichts der enormen Herausforderungen, vor der die Menschheit heute steht, auf dessen Motivationspotential vernünftiger Weise nicht verzichtet können. Ich könnte es auch so sagen: Die Botschaft, welche die Kirche zu sagen hat, hat heute nicht etwa ausgedient, sie ist heute aktueller als vielleicht je.
Als Christen müssen wir unsere Sprachlosigkeit überwinden, neu lernen, von unserem Glauben zu sprechen, statt ihn zu verstecken. Wir müssen auch unseren religiösen Analphabetismus überwinden und den Glauben kennen lernen. Was man liebt, das will man auch kennen und nur was man kennt, kann man lieben. Nur wenn wir den Glauben kennen, können wir auch Rechenschaft vom Glauben geben. Ohne Glaubenserneuerung kann es keinen Weg nach vorne geben. Wir brauchen Glaubensschulen, eine erneuerte Initiationskatechese nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene.
Thomas von Aquin wusste: Die Sache (res) des Glaubens und der Theologie ist Gott. Wir müssen darum als Kirche zur Sache kommen. Die Kirchenväter verglichen die Kirche mit dem Mond, der kein eigenes Licht hat, sondern das Licht, der er ausstrahlt, von der Sonne borgen muss. So hat auch die Kirche kein anderes Licht als das, das von Gott und Jesus Christus auf sie fällt. Wir brauchen darum eine theozentrische Wende in der Theologie, insbesondere in der Theologie von der Kirche und in der Praxis der Kirche. Wir müssen uns bewusst machen und erkennen: Die Kirche ist nicht irgendein Volk, sondern Volk Gottes unterwegs; wir müssen sie verstehen als Zeichen und Werkzeug Gottes in der Welt und als Vorzeichen des Reiches Gottes als Reich der Wahrheit, Gerechtigkeit und des Friedens. Wir sollten uns aber nichts vormachen, die vielen innerkirchlichen Fragen, die wir meist diskutieren, mögen innerkirchliche ihre Bedeutung haben; aber es sind nicht die Fragen, welche Menschen draußen interessieren. Wir müssen als Kirche Antwort geben auf die existenziellen Fragen der Menschen, die Fragen nach dem Grund und Sinn wie nach dem Ziel und dem Glück des Menschseins, nach dem Halt und Sinn im Leiden und in schwierigen Situationen. Nur wenn wir so Licht sind für die Welt, können wir missionarische Kirche sein. Wir müssen also in erster Linie neu von Gott reden.

4. Erneuerte Ekklesiologie

Die Gottesfrage an die erste Stelle und in den Mittelpunkt zu rücken, hat Folgen für die Rede von der Kirche. Wir müssen Ekklesiologie als Theologie treiben. Das bedeutet eine Herausforderung. Denn die Ekklesiologie ist erst im späten Mittelalter entstanden und dabei zu einer Hierarchologie geraten. Diese Tendenz hat sich in der Neuzeit weiter verschärft. Weil Luther den Papst als Antichrist bezeichnet hat, hat die katholische Kirche die Bedeutung des Papstes um so mehr herausgestellt und sich oft als eine Art Papstmonarchie dargestellt.
Erst die Erneuerungsbewegungen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben zu einer Gegenbewegungen geführt, die das II. Vatikanische Konzils aufgegriffen hat. Das Konzil hat auf das alte patristische Motiv verweisen: Die Kirche ist nur wie der Mond, der Licht nicht aus sich hat, sondern nur das Licht ausstrahlt, das er von der Sonne gleichsam geborgt hat. Hugo Rahner hat das gesamte Material eindrucksvoll zusammengetragen. Daran setzte das II. Vatikanum in der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ an. „Lumen gentium“ ist nämlich nicht die Kirche; das Konzil fährt vielmehr fort: „Lumen gentium quod est Christus“; „Christus ist das Licht der Völker“. Die Kirche ist nur Zeichen und Werkzeug für Gott, der sich in Jesus Christus endgültig geoffenbart hat. So hat das Konzil die mysterienhafte Seite der Kirche, die Kirche als Volk Gottes, Leib Christi Gemeinschaft im Hl. Geist wiederentdeckt.
Was das Konzil in 16 Dokumenten gelehrt hat, hat die außerordentliche Bischofssynode von 1985 20 Jahre nach Beendigung des Konzils zusammengefasst: Kirche ist das unter dem Wort Gottes versammeltes Volk Gottes, sie ist hörende Kirche; als solche wird sie durch Taufe und Eucharistie als communio konstituiert; sie ist Kirche, welche die Heilstaten Gottes feiert, und sie ist Kirche, die zum Dienst an der Welt bestellt ist. Damit fasste die Synode die vier großen Konzilskonstitutionen zusammen: Volk Gottes (Kirchenkonstitution „Lumen gentium“), unter dem Wort Gottes (Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“), das die Heiltaten Gottes feiert (Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“) und die zum Heil der Welt bestellt ist (Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“). Von diesem Wesen der Kirche muss jede Erneuerung der Kirche ausgehen. Sie muss insbesondere ausgehen vom Hören des Wortes Gottes und der Feier der Sakramente, sowie von der Besinnung auf die sakramentale Communio-Wirklichkeit aller Christen und von einem neuen Bewusstwerden der missionarischen Sendung in die Welt.
Nimmt man das Tiefenanliegen des Konzil wahr, dann ist die gegenwärtige Krise weit mehr als eine Krise der Institution. Man kann sie darum auch nicht allein mit institutionellen Reformvorschlägen beheben. Viele evangelische Kirchen, die keinen Papst und keine zentrale Kurie und keinen Zölibat haben, die in Sachen synodaler Mitbestimmung und Frauenordination allen entsprechenden Reformforderungen weit entgegen gegangen sind, sind dennoch der Lösung des Problems, wie sie in der heutigen Zeit den christlichen Glauben überzeugend leben und bezeugen können, nicht wirklich näher gekommen. Sie haben ähnliche Probleme wie die katholische Kirche. Relevanz für den Einzelnen wir für unsere Gesellschaft kann die Kirche nur haben, wenn sie Identität besitzt und wenn sie weiß, wer sie selber ist.
Äußere Reformen ohne geistliche Erneuerung sind ein ziel- und sinnloser Aktionismus, der verpufft und ins Leere geht. Umgekehrt – und dies muss mit derselben Deutlichkeit gesagt werden – ist geistliche Erneuerung ohne konkrete Erneuerung und ohne Reform weltfremder und weltflüchtiger Spiritualismus, der sich ebenso rasch verflüchtigt und zu einem Reformstau führt, der sich wie ein Mehltau auf das kirchliche Leben legt. Es muss beides zusammenkommen: Geistliche Erneuerung und konkrete Kirchenreform. So war es bei allen bisherigen Erneuerungsbewegungen, und es kann heute nicht anders sein. Wir brauchen darum in erster Linie eine geistliche Erneuerung der Kirche.

5. Erneuerung der Communio-Gestalt der Kirche

Damit komme ich zu den Fragen der institutionellen Erneuerung. Dabei gilt es, beim Leitbegriff des Konzils, Kirche als communio, anzusetzen. Communio meint nicht einfach Gemeinschaft, sondern Teilhabe (participatio) an Gottes Heilswirklichkeit durch Jesus Christus im Hl. Geist. Konkret konstituiert wird diese communio durch Taufe (Gal 3,28; 1 Kor 12,13). Das bedeutet, dass alle Getauften in der Vielfalt ihrer Charismen und Dienste Anteil haben an Gottes Heilswirklichkeit und auch Verantwortung tragen, sie durch Wort und Tat zu bezeugen. Höhepunkt der communio ist die Eucharistie. „Wir nehmen an dem einen Brot teil, also sind wir ein Leib“ (1 Kor 10, 16f). Letztlich ist die Kirche Teilhabe an der trinitarischen communio. Deshalb wird die Kirche vom Konzil im Sinn der Kirchenväter als Abbild, als Ikone der Trinität verstanden (4). Communio ist also ein theologischer und kein rein soziologischer Begriff.
Wenn wir Kirche im Sinn des Konzil als durch die Taufe und die Eucharistie begründete communio verstehen, dann bedeutet dies einen kommunikativen und brüderlichen Stil in der Kirche, der sich von älteren feudalen, und obrigkeitsstaatlichen Verhaltensmustern wie von einem scheinmodernen bürokratischen Stil unterscheidet. Das meint keine Demokratisierung der Kirche, sondern einer Realisierung der der Kirche eigenen communio-Wirklichkeit. In diesem Sinn sollte das Leben der Kirche nach innen wie nach außen durch einen kommunikativen, partizipativen und dialogischen Stil der Brüderlichkeit, der Freundschaft und des Vertrauens und durch eine hör- und lernbereite Dialogkultur geprägt sein.
Auf diesem Hintergrund konnte Dialog zu einen Schlüsselwort des letzten Konzils werden; es findet sich in den Konzilsdokumenten in den verschiedensten Zusammenhängen etwa 30 Mal. Papst Paul VI. hat dazu eine eigene Enzyklika (Ecclesiam suam, 1964) geschrieben und Papst Johannes Paul II. hat zum Thema Dialog tiefschürfende Überlegungen angestellt (Ut unum sint, 1995, Nr. 28). Man muss sich deshalb wundern, dass manche das Wort Dialog unter Verdacht stellen und es aus dem kirchlichen Sprachgebrauch wieder verbannen wollen.
Aber man muss wissen, was Dialog meint. Dialog ist kein unverbindliches Gespräch, auch keine Talk-Runde, kein akademischer Disput, keine Informations-Veranstaltung, keine politische Verhandlung, auch kein quasi-parlamentarisches Verfahren. Im Dialog teilt man dem anderen nicht „etwas“ mit, man teilt etwas von sich selber mit, ja man teilt sich selbst mit. Dialog bedeutet theologisch verstanden, sich gegenseitig Zeugnis vom je eigenen Glauben zu geben und dadurch am Reichtum des anderen teilzunehmen, sich bereichern zu lassen, aber dann auch den eigenen Glauben besser und tiefer zu verstehen. Darum trifft man sich beim Dialog nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Dialog hat auch nichts mit Relativismus und Synkretismus zu tun. Im Gegenteil, wir werden durch den Dialog tiefer in die Wahrheit eingeführt und bereichert.
Wenn wir in diesem Sinn die communio-Wirklichkeit und die dazu gehörige Kommunikation in die konkrete Realität umsetzen wollen, dann heißt das: Neubelebung und Stärkung synodaler Institutionen in der Kirche, auf der ortskirchlichen wie auf der universalkirchlichen Ebene. Diese Erneuerung ist keine Neuerung. Sie hat nichts mit einer gelegentlich kritisch beschworenen Rätekirche zu tun. Sie geht auf das Wort zurück, dass wo zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind, er, mitten unter ihnen ist (Mt 18,20). Die Synode (wörtlich: gemeinsamer Weg, Zusammenkunft) entspricht der Tradition, die letztlich zurückgeht auf das Apostelkonzil (Apg 15), in dem die Apostel, besonders Petrus, unter Beteiligung der ganzen Gemeinde entschieden haben. Die Erneuerung dieser Tradition unter den heutigen Gegebenheiten könnte einen einseitigen autoritativ-hierarchischen Stil überwinden und der Kirche ein junges frisches Gesicht und eine erneuerte Gestalt geben.
Zur communio gehört freilich auch das Amt in der Kirche. Denn communio stellt sich nicht selbst her und stellt sich nicht allein durch den brüderlichen Dialog ein. Als sündige Menschen sind wir alle irgendwie auch egoistische und egozentrische Menschen. Communio setzt darum Versöhnung voraus. Diese kann man nicht „machen“, sie ist letztlich Geschenk, Gnade. Das kirchliche Amt als repraesentatio christi repräsentiert in seinem Gegenüber zur Gemeinde dieses innerweltlich unableitbare gnadenhafte Gegenüber. Es ist darum ein konstitutiver Dienst in der kirchlichen communio und für die kirchliche communio. Die Brüderlichkeit ist in der Kirche nicht ohne geistliche Vaterschaft möglich. Es muss in der Kirche auctoritas im ursprünglichen Sinn des Wortes augere, d.h. wachsen, geben. Autorität soll also nicht Leben unterdrücken, sondern Leben stiften, und mehren, Leben wachsen lassen und Leben fördern. Das kirchliche Amt soll die anderen Christen zu ihrem Dienst befähigen, sie begleiten, ermahnen, ermutigen, es soll die verschiedenen Charismen im einen Glauben zusammenführen und zusammenhalten. Solche Autorität brauchen wir heute nicht weniger, sondern mehr.
Das Ideal scheint mir in der Regel des hl. Benedikt beschrieben zu sein. Bei Benedikt hat der Abt in der Mönchsgemeinschaft eine wichtige Stellung; er vertritt sozusagen Jesus Christus. Aber er soll bei allen wichtigen Entscheidungen den Rat der Brüder einholen; er soll auch den Jüngsten hören, weil auch durch ihn der Hl. Geist reden kann. Nach der Beratung soll der Abt alles überdenken, er soll darüber beten, um dann zu entscheiden. Autorität und Brüderlichkeit gehören also zusammen und bedingen sich gegenseitig.
Ein ähnliches kommunikatives Miteinander von Amt und Gemeinde beziehungsweise Kirche sollte es auf allen Stufen kirchlichen Lebens geben. Im Sinn der communio sind gegenwärtig großräumigere Pfarreien neuen Stils und Zuschnitts im Entstehen. Sie sollten eine Gemeinschaft von Gemeinschaften sein. Dazu gehören Haus- und Basisgemeinschaften, Gruppen verschiedenster Art, die Biotope des Glaubens sind, in denen christliches Leben erfahren, gelebt und aktive Beteiligung am kirchlichen Leben konkret eingeübt werden kann. Von ihnen können dann Licht und Wärme des Glaubens ins Umfeld ausstrahlen. Hier haben Laien eine wichtige Aufgabe. Die Aufgabe des Amtes ist es, sie am Evangelium zu orientieren und sie zur gemeinsamen Feier der Eucharistie zusammenzuführen.
Solche Gemeinschaften dürfen sich nicht abschotten. Sie müssen offen sein für die jeweilige Gemeinde und offen für die weltweite Kirche. In einer global vernetzten Welt müssen Gemeinden und Gemeinschaften ihre Kirchturmperspektive überschreiten, wirklich katholisch sein und sich für die größere Kirche in der Diözese und in der Weltkirche öffnen. Die Zeit von Nationalkirchen, welche seit dem späten Mittelalter Mitursache von unseligen Spaltungen und Konflikten geworden sind, ist vorbei. Das Christsein des 21. Jahrhunderts sollte sich durch weltweite Solidarität mit den Brüdern und Schwestern auszeichnen, welche in Not sind, vor allem mit den verfolgten und unterdrückten Christen in vielen Ländern der Welt. Dazu gehört auch die alte biblische und urchristliche Tugend der Gastfreundschaft gegenüber Menschen, die von Not und Verfolgung getrieben zu uns kommen.
Auf der Ebene der universalen Kirche braucht die Kirche in einer mehr und mehr globalisierten und doch innerlich zerrissenen Welt um der Einheit in der Vielfalt willen ein starkes Zentrum. Wir brauchen Petrus, der mit seinem Christusbekenntnis der Fels ist, auf den die Kirche gegründet ist (Mt 16,18). Gerade in schwierigen Zeiten wie der unsrigen gilt es, sich um Petrus zu scharen. Ebenso braucht die Kirche eine Stärkung ihrer kollegialen/synodalen Struktur. Beides widerspricht sich nicht. Die vom Zweiten Vatikanischen Konzil gewollte Integration beider Gesichtspunkte könnte vielmehr dazu beitragen, die innere Einheit zu stärken und den noch immer vorhandenen, neuerdings leider sogar wieder verstärkt spürbaren antirömischen Affekt zu überwinden.
So wird es in Zukunft unausweichlich sein, die Bedeutung der Bischofssynode und des Konsistoriums zu stärken, einen alles steuern wollenden kurialen Zentralismus wieder etwas zurückzufahren und den Ortskirchen, das heißt der Kirche in einem Land, einer Kultur oder auch einem Kontinent, innerhalb der gesamtkirchlichen communio mehr Eigenverantwortung zu geben. Dadurch wird die Bedeutung des dem Petrusamt übertragenen Auftrags, die Brüder zu stärken (Lk 22,32), nicht ab-, sondern zunehmen.
Zum Dialog nach innen kommt der Dialog nach außen: der Dialog mit dem Gottesvolk des Alten Bundes. Damit hat das Konzil eine neue Seite aufgeschlagen in dem komplexen und schwierigen Verhältnis zum Judentum. Natürlich bestehen da grundlegende Unterschiede vor allem in der Frage, ob Jesus der Christ und der Sohn Gottes ist. Trotzdem können wir Freunde werden und zusammenarbeiten. Wir haben immerhin die Zehn Gebote gemeinsam, und die Welt sähe anders aus, wenn sich alle wenigstens bemühen würden, sich daran zu orientieren.
In unserer Situation, dem Ursprungsland der Reformation, ist besonders der ökumenische Dialog wichtig. Er ist Auftrag Jesu (Joh 17,21) und – wie das Konzil ausdrücklich sagte – ein Werk des Heiligen Geistes. Die Entscheidung zum ökumenischen Dialog ist darum irreversibel und unwiderruflich; er ist eine wichtige Baustelle der Kirche der Zukunft. Wir haben viel erreicht und können schon Früchte ernten. Aber es stehen auch noch ernste Fragen vor uns. Wir sind noch nicht am Ziel. Es gibt noch offene Fragen: Die Frage nach der Kirche und im Zusammenhang der Kirchenfrage die Amtsfrage. Es ist deshalb einfach nicht wahr, wenn manche behaupten, es sei schon alles gelöst, nur „die da oben“ hätten das noch nicht begriffen. Wir sollten aber das, was wir in der Wahrheit und in der Liebe schon heute gemeinsam tun können, auch gemeinsam tun. Das ist mehr als was wir heute gewöhnlich schon tun. Die Kirchen stehen heute vor gemeinsamen Herausforderungen; sie können sich ein Gegeneinander oder auch nur ein unbeteiligtes Nebeneinander nicht leisten. Sie müssen wir gemeinsam Zeugnis geben.
Wichtig ist schließlich der interreligiöse Dialog. Er ist die einzig mögliche Alternative zur Gewalt und zu einem Zusammenstoß der Kulturen, der Ethnien und der Religionen. Durch diesen Dialog in der Wahrheit und in der Liebe kann die Kirche als eschatologisches Volk Gottes mitten in den Konflikten unserer Welt Vorausbild und Werkzeug des eschatologischen Friedens (schalom) sein. Die jüngste Begegnung in Assisi hat dafür ein Zeichen gesetzt.
Mit den Dialogen nach innen und außen hat das Zweite Vatikanische Konzil Entwicklungen angestoßen, die uns fordern, die wir aber nicht programmieren können. Das Konzil hat uns für die gegenwärtige geschichtliche Stunde des Abschieds von langsam, aber unaufhaltsam vergehenden volkskirchlichen Formen und des Aufbruchs zu einer neuen Art des Kircheseins die Richtung gewiesen. Es hat uns ein Licht auf den Weg gegeben, das nicht wie ein Flutlicht eine ganze Piste in die Zukunft hinein ausleuchtet; es hat uns gleichsam eine Laterne in die Hand gegeben, die wie jede Laterne nur leuchtet in dem Maße, als wir selbst voranschreiten. Sie gibt Licht jeweils für den nächsten Schritt, dem dann andere Schritt folgen können und folgen müssen.

6. Schluss: Neue Freude an der Kirche

Letztlich ist die Erneuerung nur durch ein erneuertes Pfingsten möglich. Davon hat Papst Johannes XXIII. bei der Einberufung und bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils gesprochen. Wenn wir davon überzeugt sind, dass letztlich nur der Pfingstgeist die Erneuerung schenken kann, dann müssen wir vor allem anderen das tun, was die ersten Jünger und Jüngerinnen vor Pfingsten taten. Damals versammelten sich Apostel, die Frauen, die Jesus begleitet hatten, zusammen mit Maria, der Mutter Jesu, und verharrten einmütig im Gebet (Apg 1,12-14). Auch heute wird die Zukunft der Kirche in erster Linie von den Betern bestimmt, und die Kirche der Zukunft wird vor allem eine Kirche der Beter sein.
Der Geist kann wie am ersten Pfingsten im Sturm und mit Feuer kommen (Apg 2,2f.), mit dem Sturm, der manches hinwegfegt und mit dem Feuer, das manches von dem verbrennt, was uns heute noch wichtig erscheint. Der Geist kann aber auch wie beim Propheten Elia im leisen Säuseln des Windes kommen (1 Kön 19,12f.) und uns und die Welt mit seiner Glut von innen her reinigen und verwandeln. Er kann uns neu bewusst machen, dass wir uns keine Sorgen machen brauchen, dass vielmehr die Freude an Gott unsere Stärke ist (Neh 8,10). Wenn wir aus dieser Freude heraus als Volk Gottes Freude an der Kirche haben, wird die Kirche auch morgen leben und übermorgen Zukunft haben. Sie wird dann als Vorschein des kommenden Reiches Gottes suchende und fragende junge wie ältere Menschen anziehen und für viele wieder neu geistliche Heimat sein. Jammern zieht niemanden an; Freude dagegen ist ansteckend. Freude am Christsein überzeugt. Denn wer kann uns Besseres geben als Jesus Christus. Wenn ich zu dieser Freunde ein wenig beitragen konnte, bin ich hochzufrieden.

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(1) Zum Folgenden W. Kasper, Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung, Freiburg i. Br. 2011, 463 ff.
(2) Der Begriff Volkskirche kann verschieden verstanden werden: Hier wird er in dem Sinn einer vom Milieu getragenen Kirche verstanden. In einem anderen Sinn, als Kirche, welche in allen Schichten, den armen wie den wohlhabenden, den Gebildeten wie den einfachen Menschen verankert sein soll und die darum nie nur eine Elitekirche der Hochengagierten sein darf, wird und muss Kirche immer Volkskirche sein und bleiben.
(3) LG 8.
(4) LG 4; UR 3.