Ökumene vor neuen Herausforderungen

Kardinal Walter Kasper

Ökumenische Herausforderungen? Wenn ich die Medienberichterstattung der letzten Zeit, nicht nur in Deutschland, betrachte, dann könnte man meinen, die Ökumene selbst sei keine ernstzunehmende Herausforderung mehr, sie sei gelähmt, liege in den letzten Zügen und sei schon fast tot. Um es gleich vorweg zu sagen: Meine Wahrnehmung und meine Erfahrung sind eine ganz andere, trotz mancher harscher Töne der letzten Wochen [1]. Die Erfahrung, welche ich erst in der letzten Woche in Ravenna beim Gespräch mit den orthodoxen Kirchen, gestern und noch heute früh beim internationalen ökumenischen und interreligiösen Friedenstreffen von San Egidio in Neapel wie jüngst bei der Lektüre des Artikels in den StdZ von Harding Meyer, eines ökumenischen Weggefährten seit über 40 Jahren, gemacht habe, bestätigen mich in diesem Urteil. [2]

1.

Doch beginnen wir mit einem kurzen Blick zurück. Man hat das 20. Jahrhundert schon als ökumenisches Jahrhundert bezeichnet und die ökumenische Bewegung als ein Licht in einem sonst dunklen und blutigen Jahrhundert genannt. In dem Jahrhundert, in dem zwei blutige Weltkriege die Völker entzweiten, haben sich die Christen aufgemacht um sich nach jahrhundertealtem Streit wieder zu versöhnen und Zeichen und Werkzeug der Versöhnung zu sein.

Am Anfang der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts stand die Welt-Missionskonferenz von Edinburgh (1910), auf deren 100-jähriges Jubiläum im Jahr 2010 wir uns schon jetzt ökumenisch gemeinsam vorbereiten. Die damals anwesenden Missionare kamen einmütig zu der Überzeugung, dass die Spaltung der Christenheit das größte Hindernis für die Weltmission darstellt. Das war der Anfang und der Auslöser. Weltmission und Ökumene gehörten also von Anfang an wie zwei siamesische Zwillinge zusammen. Jesus hat ja darum gebetet, dass alle eins seien, damit die Welt glaube (Joh 19, 21). Der missionarischen und der ökumenischen Bewegungen ist gemeinsam, dass in beiden ein Aufbruch und eine Selbstüberschreitung der Kirche geschieht, das eine Mal im Blick auf andere Völker und Kulturen, das andere Mal im Blick auf andere Kirchen. [3]

Die katholische Kirche hat dem ökumenischen Aufbruch offiziell lange Zeit misstraut und dies in der Enzyklika „Mortalium animos“ (1923) amtlich dokumentiert. Man befürchtete damals – wie heute manche wieder – einen dogmatischen Irenismus und Relativismus. Aber es gab schon früh mutige Pioniere. So hat sich nach ersten noch zögerlichen Öffnungen während des Pontifikats von Papst Pius XII. das II. Vatikanische Konzil (1962-65) über diese Bedenken hinweggesetzt. Nicht der Geist liberalen Indifferentismus, sondern der Hl. Geist – so sagte das Konzil – hat den Impuls zur Annäherung und Versöhnung der Christenheit gegeben (UR 1; 4). Man verstand nun das Gebet Jesu am Abend vor seinem Tod „dass alle eins seien“ (Joh 19,21) als Jesu verpflichtendes Testament.

Ökumene ist daher kein privates Steckenpferd, sondern verpflichtender Auftrag des Herrn der Kirche. Papst Johannes Paul II. hat diese Entscheidung des Konzils als unumkehrbar bezeichnet (UUS 2) und die Ökumene zu einer seiner pastoralen Prioritäten erklärt (UUS 99). Papst Benedikt XVI. hat beides bereits am ersten Tag seines Pontifikats bestätigt [4]. Kein Verantwortlicher denkt an einen Rückzug!

2.

Der nachkonziliare Enthusiasmus war groß. Die bilateralen und multilateralen internationalen Dialoge – die regionalen und lokalen nicht mitgerechnet – füllen drei dicke Bände mit dem Titel „Dokumente wachsender Übereinstimmung“ [5]. Nur an drei bedeutende Dokumente will ich erinnern. Nach Vorarbeiten der auf Kardinal Franz König zurückgehenden Stiftung „Pro Oriente“ in Wien konnte durch gemeinsame Erklärungen des Papstes und einzelner Patriarchen der vorchalkedonensischen Kirchen (Kopten, Syrer u.a.) die 1500 Jahre dauernde Kontroverse in der Christologie gelöst werden. Bei uns bekannter sind die Limadokumente über „Taufe, Eucharistie und Amt“ (1983) und die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999), die Papst Benedikt in den letzten beiden Jahren mehrfach als Meilenstein bezeichnet hat.

Es waren nicht nur ökumenische Enthusiasten, die hoffnungsvoll nach vorne schauten. Auch Papst Paul VI. und der Ökumenische Patriarch Athenagoras hielten eine baldige Vereinigung zwischen katholischer und orthodoxer Kirche für möglich [6]. Papst Johannes Paul II. war noch 1994 in seinem Schreiben zur Vorbereitung des großen Jubiläums 2000 „Tertio millennio adveniente“ von der Zuversicht erfüllt, katholische und orthodoxe Christen könnten bei der Jahrtausendwende wenn schon nicht in völliger Einheit auftreten so doch der Überwindung der Spaltung sehr nahe sein (Nr. 34). Von solcher Naherwartung sind wir heute weit entfernt. Ernüchterung ist eingetreten.

3.

Was ist geschehen? Ist die Herausforderung, von der man 1910 ausging, heute etwa nicht mehr gegeben? Das wird im Ernst niemand behaupten wollen. Denn das Gegenteil ist offenkundig. Hat uns also der Mut von damals schon wieder verlassen? Sind wir statt auf dem Weg der Selbstüberschreitung auf dem Pfad der Selbstprofilierung und der Selbstverteidigung? Sind wir ängstlich um abgrenzende Identität besorgt statt auf evangelische und katholische Weite bedacht?

Wie immer reicht eine einzelne Antwort nicht aus. Mehr psychologisch betrachtet hat man schon gesagt, die ökumenische Bewegung sei an ihrem eigenen Erfolg erstickt. Die raschen ersten Erfolge haben Erwartungen geweckt, die nüchtern betrachtet so nicht erfüllbar waren. Je näher wir uns darum gekommen sind, um so mehr spürten wir schmerzlich die noch bestehenden Unterschiede. So sind die Erwartungen in Enttäuschungen umgeschlagen, die ihrerseits zu der Versuchung führen, den jeweils anderen in der Öffentlichkeit in die Ecke zu stellen um selber als der bessere Ökumeniker zu punkten. Das führt zu einer Atmosphäre des Misstrauens, die weitere Fortschritte unmöglich macht. Denn jeder Dialog setzt gegenseitiges Vertrauen, ja Freundschaft voraus. Hier müssen alle Seiten im Blick auf die drängenden gegenwärtigen gemeinsamen Herausforderungen in sich gehen.

Wichtiger als psychologische Gesichtspunkte sind die Sachprobleme. Der Erfolg der ersten erfolgreichen Phase des ökumenischen Aufbruchs besteht darin, dass man die bisherige Methode der Kontroverstheologie verließ und statt vom Trennenden vom größeren Gemeinsamen ausging. Man hat dabei die Unterschiede nicht etwa als irrelevant erklärt, sondern hat versucht, sie auf der gemeinsamen Basis erst einmal richtig zu verstehen und dann, wenn möglich, zu überwinden. Die wichtigste Frucht der ersten Phase waren deshalb nicht die Dokumente, sondern dass wir uns als Brüder und Schwestern in Christus wiederentdeckt und gegenseitig anerkannt haben (UUS 42). Wir haben entdeckt, dass die Trennung nicht bis in die Wurzel gegangen ist, dass das Gemeinsame größer ist als das Trennende und dass wir in den Grundwahrheiten des christlichen Glaubens im Wesentlichen übereinstimmen. Wir leben, wir arbeiten und wir beten zusammen, und wir empfinden das als Bereicherung unseres eigenen Christseins. Hier kann es und darf es kein Zurück geben.

Die Übereinstimmung geht sogar noch einen Schritt weiter, und dies ist in den überhitzten Debatten der letzten Wochen leider übersehen worden. Als Katholiken sagen wir, dass die Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche subsistiert, d.h. ihre konkrete sichtbare Daseinsweise hat. Aber wir fügen sofort hinzu, dass wir anerkennen, dass es außerhalb der institutionellen Grenzen der katholischen Kirche nicht nur als einzelne Christen, sondern auch Elemente von Kirchenwirklichkeit gibt, vor allem die Verkündigung des Wortes Gottes und die Taufe (LG 8; 15; UR 3; 15). Die wechselseitige Anerkennung der Taufe, wie sie in Deutschland vor einigen Monaten geschehen ist, hat diesen Basiskonsens deutlich gemacht. Es besteht also außerhalb der Grenzen der katholischen Kirche – wie die Ökumeneenzyklika „Ut unum sint“ (1995) sagt – kein ekklesiologisches Vakuum (UUS 13). Sowohl das Konzil wie die Enzyklika sprechen von einer Heil schaffenden Gegenwart Jesu Christi und seines Geistes in den anderen Kirchen und Kirchengemeinschaften (UR 4; UUS 10-14). Die jüngste römische Erklärung hat dies keineswegs widerrufen. Sie hat die Aussage von der heilswirksamen Gegenwart Christi in den anderen Kirchen und in den kirchlichen Gemeinschaften vielmehr ausdrücklich wiederholt.

Wir brauchen hier nicht nochmals im einzelnen auf diese Diskussion eingehen. Kardinal Karl Lehman hat dazu in Fulda jüngst das Nötige gesagt [7]. Dass eine solche Wiederholung von im Wesentlichen Altbekanntem notwendig war und dann sogar als ökumenische Wohltat bezeichnet wurde, zeigt aber, dass an sich längst Bekanntes nicht mehr bekannt ist. In Wirklichkeit ist viel mehr geschehen als die meisten heute noch wissen. Es steht mit der Ökumene nicht so schlecht wie viele uns einreden wollen. Man kann eine Situation ja auch schlecht und schließlich tot reden.

Der Päpstliche Einheitsrat hat darum schon vor einiger Zeit ein Projekt gestartet, die reichen bisherigen Ergebnisse, die Konsense, die Konvergenzen wie die noch bestehenden Differenzen gleichsam wie in einem großen Erntewagen zu sammeln und in die Scheune einzufahren. Ein erster Entwurf soll bereits der Vollversammlung im nächsten Jahr vorgelegt werden. Diese Vollversammlung wird das mit dem Papst abgestimmte Thema haben: „Rezeption und Zukunft der Ökumene“. Wir hoffen damit einen Beitrag zu der zu Recht immer wieder, jüngst von Harding Meyer erneut geforderten Rezeption der Dialogergebnisse zu leisten.

Nachdem also die Heilsfrage der nichtkatholischen Christen und die grundlegende Heilsbedeutung der nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften geklärt ist, stellt sich nun die Kirchenfrage im engeren Sinn. Sie ist nun die Kernfrage, und es kann ja nicht verboten sein, darauf hinzuweisen. Mit den orthodoxen Kirchen geht es vor allem um die Frage nach dem Petrusamt, mit den evangelischen Christen um die Frage der bischöflichen Verfassung der Kirche und des Bischofsamtes in apostolischer Sukzession sowie das Verständnis des Priester- bzw. Pastorenamtes. Die letztere Frage ist nach katholischem Verständnis konstitutiv für die Eucharistiefrage und die Eucharistiegemeinschaft (UR 22). Man kann sie darum nicht, wie jüngst wieder gefordert, ausklammern und offen und lassen, wenn man in der Eucharistiefrage ernsthaft weiterkommen will.
An diesen Fragen wird gegenwärtig in den internationalen Dialogen an verschiedenen Baustellen intensiv gearbeitet. Die Primatsfrage steht auf der Tagesordnung des internationalen Dialogs mit den orthodoxen Kirchen [8]. Vor einer Woche haben wir in Ravenna in großer Einmütigkeit die Grundlagen gelegt und beschlossen, in der nächsten Runde daran weiterzuarbeiten. Die Amtsfrage wird gegenwärtig sowohl in der Kommission „Glaube und Kirchenverfassung“, wie in den verschiedenen internationalen Dialogen und in der deutschen „Arbeitsgemeinschaft evangelischer und katholischer Theologen“ behandelt. Es gibt einzelne Fortschritte, im Dialog mit einigen lutherischen Kirchen scheint sich etwas zu bewegen, leider nicht bei uns in Mitteleuropa. Bleibt zu hoffen, dass das Jahr 2017 mit der Feier der 500. Wiederkehr des Thesenanschlags Luthers und damit des Beginns der Reformation doch noch zu der Besinnung darauf führt, dass Luther selbst keine neue Kirche, sondern die Erneuerung der einen Kirche wollte, was damals aus vielen Gründen und durch Schuld auf beiden Seiten misslang.

Die Folge der gegenwärtigen Situation ist, dass wir bei unseren Einheitsbemühungen von einem unterschiedlichen Kirchenverständnis ausgehen und so zu unterschiedlichen ökumenischen Zielvorstellungen kommen. Es gibt, wie die Vollversammlung des ÖRK in Harare (1998) eingeräumt hat, gegenwärtig keine gemeinsame Vision (common vision), was mit der angestrebten sichtbaren Einheit konkret gemeint ist [9]. Das ist eine gefährliche Situation. Denn wenn man sich über das Ziel nicht einig ist, besteht die Gefahr, dass man in verschiedene Richtungen auseinander läuft und am Ende weiter von einander entfernt ist als zuvor.

So erwartet die evangelische Seite, dass wir die Kirchen- und Amtsfrage offen lassen. Was ist für Katholiken eine ökumenische Einigung zu für uns unannehmbaren evangelischen Konditionen wäre. Die katholische Kirche dagegen will eine sichtbare Einheit in den Fragen des Glaubens, der Sakramente und des beiden dienend zugeordneten apostolischen Amtes, was viele evangelische Partner als katholische Zumutung einer sogenannten Rückkehrökumene betrachten.

Man muss diese vertrackte Situation vor Augen haben, wenn man die jüngsten Auseinandersetzungen verstehen will. Deshalb ist es erfreulich, dass inzwischen in Deutschland eine von mir schon länger befürwortete Übereinkunft hergestellt wurde, den Stier bei den Hörnern zu packen, einen neuen Anlauf zu dem seit dem Dokument „Communio Sanctorum“ (2000) faktisch unterbrochenen theologischen Dialog zu machen und dabei die ökumenischen Zielvorstellungen wie die damit verbundene Kirchen- und Amtsfrage neu anzugehen. Wenn das gelingt, dann hat der Krach der letzten Wochen am Ende doch noch zu einem guten Ergebnis geführt.

4.

Die Lösung der bisherigen Kontroversfragen ist also unumgänglich und eine bleibende Herausforderung. Sie ist freilich nur eine Herausforderung. Die Entwicklung ist inzwischen weitergegangen. Sie ist weitergegangen nicht nur in der Ökumene, sie ist weitergegangen vor allem in der Welt, die sich in einem rasanten Wandel und in Europa, das sich in einer tiefen geistlichen Krise befindet. Von diesem Wandel und dieser Krise ist selbstverständlich auch die Ökumene betroffen. Sie kann heute gar nicht mehr dieselbe sein wie vor 40 Jahren bei dem enthusiastischen Aufbruch nach dem Konzil. Es sind neue Herausforderungen hinzugekommen.

Die bedrängendste Herausforderung kommt nicht – wie man meinen könnte – von außen, sondern von innen. Denn es ist eine ernsthafte Frage, ob das was als gemeinsame Basis gilt, heute wirklich noch allen gemeinsam ist. Man kann nicht die Augen vor einer Erosion des Glaubens in allen Kirchen verschließen. Fundamentale, ans Mark des christlichen Glaubens gehende gemeinsame Glaubenswahrheiten wie die Menschwerdung Gottes, Kreuz und Auferstehung Christi sind – wenn wir ehrlich sind – längst nicht mehr allen selbstverständliche Glaubenswahrheiten. Mit der Rechtfertigungslehre wissen heute viele katholische wie viele evangelische Christen nur noch herzlich wenig anzufangen. In der Tat, was soll Rechtfertigung des Sünders besagen, wenn man nicht mehr um die heillose Verstickung in Sünde und Gottesferne weiß, wenn Gott fern gerückt ist, Kreuz und Auferstehung fraglich geworden sind? So erscheinen unsere ökumenischen Diskussionen vielen schlicht als irrelevant. Die künftige ökumenische Diskussion kann sich also nicht mehr allein auf die Kontroversfragen beschränken. Sie muss die Fundamente des zu erbauenden ökumenischen Hauses sichern. Man nennt das Fundamentalökumene. Sie ist eine gemeinsame Aufgabe.

Auf evangelischer Seite erleben wir freilich gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Rückwendung zu Motiven der liberalen Theologie. Die sichtbare Einheit der Kirche tritt in den Hintergrund. Dagegen treten Motive wie Individualität, Innerlichkeit, individuelles Gewissen und – gegenwärtig ganz groß geschrieben – Freiheit in den Vordergrund. Das alles waren zentrale Inhalte in den Vorlesungen, welche Adolf Harnack über das „Wesen des Christentum“ im Jahr 1900 hielt.

Die Reaktion hat nicht auf sich warten lassen. Bei uns treten den liberalen Tendenzen immer mehr hochkirchliche Gemeinschaften (Michaels- und Jakobusbruderschaft, Hochkirchliche Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses u.a.) entgegen, welche in der Liturgie wie in der Ausgestaltung der Ämter das katholische Erbe im Protestantismus stärker zur Geltung bringen wollen. Dazu kommen Kommunitäten, freikirchliche und pietistische Gruppierungen. Auf Weltebene sind als Reaktion auf liberalen Tendenzen evangelikale Bewegungen auf dem Vormarsch. Solche Erweckungsbewegungen gab es innerhalb des Protestantismus schon in der Vergangenheit, besonders im Pietismus. Heute ist evangelikal oft geradezu zu einem kirchenpolitischen Kampfbegriff geworden. Öfter – freilich nicht immer – sind damit fundamentalistische Tendenzen verbunden, die sich teilweise auch in der katholischen Kirche finden. Es gibt also nicht nur eine ökumenische Sammlungsbewegung, es gibt leider auch eine fortschreitende Fragmentisierung der Christenheit. Es ist darum eine neue Herausforderung der Ökumene, zwischen theologischem Liberalismus und konfessionalistischem Fundamentalismus einen verantwortbaren Weg in die Zukunft zu finden. [10]

Doch damit nicht genug. Während die historischen Kirchen über ihre geschichtlich ererbten Probleme diskutieren und leider vor allem in ethischen Fragen teilweise neue Gräben aufwerfen, zieht bereits neue Formationen kirchlicher Gemeinschaften herauf. Man spricht von einer dritten Welle der Christentumsgeschichte: nach der ersten Welle in den Kirchen, die auf das erste Jahrtausend zurückgehen (altorientalische, orthodoxe und katholische Kirche), die zweite Welle in den Kirchen, welche direkt oder wie die Freikirchen indirekt auf die Reformation des 16. Jahrhunderts zurückgehen, jetzt die dritte Formation in den charismatischen Gemeinschaften und vor allem in den Pfingstkirchen.

Die Pfingstkirchen sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Milieu der methodistischen Erweckungsbewegung etwa gleichzeitig in Los Angeles und an verschiedenen Orten der südlichen Hemisphäre entstanden. Sie haben keine Wurzeln in der Reformation des 16. Jahrhunderts, sondern verstehen sich als neue Ausgießung des Heiligen Geistes, als neues Pfingsten. Seit ihrem ersten Auftreten expandieren sie in einer atemberaubenden, bisher nie da gewesenen Weise. Genaue Zahlen sind nicht möglich. Weltweit rechnet man mit etwa 400 Millionen, nimmt man die charismatischen Gemeinschaften innerhalb der traditionellen Kirchen hinzu kommt man auf etwa 600 Millionen. Schon spricht man in diesem Zusammenhang vom Christentum der Zukunft. [11]

Der Päpstliche Einheitsrat hat die neue Herausforderung aufgegriffen und in den beiden letzten Jahren zahlreiche Seminare für Bischöfe, Theologen sowie ökumenisch engagierte Laien durchgeführt: in Nairobi und Dakar in Afrika, in Sao Paolo und Buenos Aires in Lateinamerika wie in Seoul und Manila in Asien. Nächstes Jahr ist ein weiteres Seminar in Indien geplant. Bei allen diesen Seminaren bestand Übereinstimmung, dass die Herausforderung sich nur durch eine selbstkritische pastorale Gewissenserforschung, eine geistliche und institutionelle Erneuerung des Lebens der eigenen Kirche bewältigen lässt. Das alles zeigt: Es geschieht in der Ökumene weltweit viel mehr als viele hierzulande wahrnehmen.

5.

Wie kann es konkret weitergehen? Der ehemalige Generalsekretär des ÖRK Konrad Raiser hat einen ökumenischen Paradigmenwechsel vorgeschlagen und gesagt, an die Stelle der theologischen Dialoge solle eine sogenannte Säkularökumene treten [12]. In Zukunft sollen die getrennten Christen auf dem Weg der Zusammenarbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit in der Welt zusammenfinden. Daran ist etwas Wahres, aber eben nur eine Teilwahrheit. Natürlich haben die Christen allen Grund schon heute zusammenzuarbeiten und gemeinsam Zeugnis zu geben für das Leben, für die Menschenrechte, für Frieden und Gerechtigkeit , für die Bewahrung der Schöpfung, für die christlichen Wurzeln und Werte Europas.

Doch es ist nicht wahr, wie manche meinten, dass die Lehre trennt während die Praxis eint. Es waren unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Optionen (etwa in der Einstellung zum früheren kommunistischen Ostblock, zu manchen Befreiungsbewegungen, zur Apartheid in Südafrika, zur Krise im Nahen und Mittleren Osten u.a.), welche im ÖRK zu Spannungen und Spaltungen geführt haben. Die praktischen Fragen können nur gelöst werden, wenn man sich einig ist, was die rechte Praxis (Orthopraxis) ist. Orthopraxis lässt sich darum nicht von Orthodoxie trennen.

Auch für den Fortgang des theologischen Dialogs gibt es neue Vorschläge. So wird vorgeschlagen, die bisherige Konsens- und Konvergenzökumene durch eine Differenzökumene [13] oder eine Ökumene der Profile zu ersetzen [14]. Die Gefahr dieser Vorschläge ist, dass sie – gewollt oder ungewollt – in einen Neokonfessionalismus führen. Will man das vermeiden, dann gibt es keinen anderen Weg als weiterhin von dem auszugehen was uns gemeinsam ist und was wir inzwischen gemeinsam erreicht haben. Auf der gemeinsamen Basis kann dann jede Seite in unpolemischer, überzeugender und einladender Weise von dem Zeugnis geben, was ihrem Kirchenverständnis wichtig und teuer ist, was sie darum gerne dem Partner weiterschenken will und mit ihm teilen möchte. Das führt zu einem Austausch nicht nur von Ideen, sondern von Gaben, die uns gegenseitig bereichern. Diesen Dialog und diese Ökumene des Austauschs haben schon Papst Johannes Paul II. (UUS 28; 57) wie der damalige Kardinal Ratzinger in Vorschlag gebracht [15].

Der Vorschlag ist nicht neu. Katholische Christen haben in den letzten Jahrzehnten viel von den evangelischen Brüdern gelernt bezüglich der Bedeutung des Wortes Gottes, der Hl. Schrift und der Exegese. Sie lernen ihrerseits von uns über Bedeutung und Gestalt des Gottesdienst und gottesdienstlicher Symbolhandlungen. Warum sollte in der Amtsfrage ähnliches nicht möglich sein? Es kann also nicht um abgrenzende, die konfessionellen Positionen festschreibende Profile gehen, sondern um umkehr- und lernbereite Öffnung zu einer im ursprünglichen Sinn des Wortes verstandenen evangelischen und katholischen Weite. Ökumene ist kein Verlustgeschäft, bei dem man sich auf dem Weg von ökumenischer Diplomatie und Kompromissen auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner trifft, sie ist auch kein Weg zurück, sondern ein Zuwachs an geistlichem Reichtum, bei dem uns der Geist Gottes in die ganze Wahrheit einführt (Joh 16,13) und wir zur ganzen Fülle und zum Vollalter Christi heranwachsen (Eph 4,13). Wenn wir Jesus Christus näher kommen und mit ihm eins werden, dann kommen wir auch einander näher und finden zur vollen Gemeinschaft untereinander.

Akademische theologische Dialoge werden dabei auch in Zukunft ihren unverzichtbaren Platz behalten. Es geht ja um Einheit in der Wahrheit und in der Klarheit. Akademische Dialoge können aber nicht die einzige Form des Dialogs sein. Sie müssen getragen sein von einer Ökumene des Lebens und einer geistlichen Ökumene. Wir können die Einheit der Kirche ja nicht „machen“. Sie ist ein Geschenk des Geistes Gottes. So ist die geistliche Ökumene das Herz der Ökumene (UR 8; UUS 21-27; 33-35). Zu ihr sind alle, jeder an seinem Platz berufen.
An dieser Stelle ist die erfreulichste und auf die Dauer wohl auch fruchtbarste Weiterentwicklung der Ökumenischen Bewegung zu nennen. In den letzten Jahren haben sich immer mehr evangelische und anglikanische Kommunitäten, freikirchliche pietistische und hochkirchliche Gruppierungen mit entsprechenden katholischen Partnern (Orden, Kongregationen, einzelne Klöster wie Chevetogne, Taizé, Bose Niederaltaich, Neresheim, geistliche Bewegungen wie die Fokolarbewegung, Chemin neuf u.a.) zu Netzwerken zusammengeschlossen. Sie kommen zusammen, beten zusammen, tauschen ihre Erfahrungen aus und versprechen sich das Gebet. Das ist nachhaltige und zukunftsweisende Ökumene. Öffentlich wirksam war vor allem als sich im Mai 2004 und 2007 in Stuttgart jeweils etwa 8.000 bzw.10.000 meist jüngere Leute aus den verschiedenen Kirchen versammelt und ein geistliches Bündnis geschlossen haben.

Der Päpstliche Einheitsrat hat jüngst eine Vielzahl von Anregungen zur geistlichen Ökumene zusammengestellt und veröffentlicht [16]. Als wir daran gingen zusammenzustellen, was in unterschiedlichsten Ortskirchen schon geschieht, waren wir selbst erstaunt: Es ist schon heute viel mehr möglich als wir meist ahnen. Würde nur überall alles geschehen, was schon heute möglich ist, dann wären wir schon einen Riesenschritt weiter.
Das zeigt: Die Ökumene ist weder blockiert und erstarrt, noch ist sie tot. Sie ist weltweit in eine neue Situation und in eine neue Phase eingetreten, in der sie neuen Herausforderungen begegnet. In einer sich rapid wandelnden, zunehmend eins werdenden Welt, in der gleichzeitig hochgefährliche weltweite Konflikte drohen, ist und bleibt Ökumene ein Impuls des Geistes Gottes zur Versöhnung und eine wichtige Baustelle für die Kirche der Zukunft. So kann und muss auch das 21. Jahrhundert, geb’s Gott, zu einem ökumenischen Jahrhundert werden.

 

  1. Ausführlich zur ökumenischen Situation: W. Kasper, Wege der Einheit, Freiburg i. Br. 2004, 26-48; Ökumene im Wandel, in: StdZ 132 (2007) 3-18.
  2. H. Meyer, Stillstand oder Kairos? Zur Zukunft des evangelisch/katholischen Dialogs, in: StdZ 132 (2007) 687-696.
  3. Dies hat der Altmeister katholischer ökumenischer Theologie, Y. Congar, Diversités et communion, Paris 1982, 238-244 herausgestellt.
  4. Ansprache an die Kardinäle zum Abschluss des Konklave am 20. April 2005.
  5. H. Meyer u.a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, 3 Bde., Paderborn - Frankfurt a.M. 1983-2003.
  6. Tomos Agapes. Vatikan - Phanar, Rom-Istanbul 1971, bes. 614-623.
  7. K. Lehmann, Selbstverständlich katholisch, in: FAZ vom 23. September 2007, S. 8; vgl. auch W. Thönissen (Hg.), „Unitatis redintegratio“. 40 Jahre Ökumenismusdekret, Frankfurt a.M. 2005; W. Kasper (Hg.) Searching for Christian Unity, New York 2007, bes. 20-31.
  8. Die Einladung von Papst Johannes Paul II., in einen Dialog über eine neue Form der Primatsausübung einzutreten (UUS 95) wurde von Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch im Phanar am 30. November 2006 ausdrücklich wiederholt. Der Päpstliche Einheitsrat hat alle eingegangnen Antworten gesammelt, analysiert, die Analyse auf der Vollversammlung 2001 diskutiert, sie veröffentlicht (Information Service 109 [2002/I-II] 29-42) und allen Kirchen, die geantwortet haben, zugesandt.
  9. D. Kessler (Hg.) „Together on the Way“, Official Report of the eighth Assembly of the World Council of Churches (Harare), World Council of Churches Publications, Geneva 1999.
  10. P. Neuner u.a., Ökumene zwischen postmoderner Beliebigkeit und Rekonfessionalisierung, Berlin 2006.
  11. P. Jenkins, The Next Christendom. The Coming of Global Christianity, Oxford–New York 2002.
  12. K. Raiser, Ökumene im Übergang, Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung, München 1989.
  13. U. Körtner, Wohin steuert die Ökumene? Vom der Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen 2005.
  14. W. Huber, Im Geist der Freiheit. Für eine Ökumene der Profile, Freiburg i. Br. 2007.
  15. J. Ratzinger, Zur Lage der Ökumene, in: Weggemeinschaft des Glaubens, Augsburg 2002, 220-234, bes. 231f.
  16. W. Kasper, Wegweiser Ökumene und Spiritualität, Freiburg i. Br. 2007. Zur Ökumene des Lebens: Ökumene des Lebens. Perspektiven für die Zukunft, in: Sakrament der Einheit, Freiburg i. Br. 2004, 55-79.